Heute auf meinem Nachttisch… “Eine Frau erlebt die Polarnacht“ von Christiane Ritter.

Christiane Ritter gibt schließlich den Bitten ihres Mannes nach und kauft sich ein Ticket für die Überfahrt nach Spitzbergen. In der Hoffnung, dort Rohrbrüchen, Kurzschlüssen und Mieten zu entkommen, hat er sich bei Eis und Schnee nach einer wissenschaftlichen Expedition abgesetzt. Christiane Ritters Ziel: Eine gemeinsame Überwinterung. Ausgerüstet mit den besten Wünschen aus der Nachbarschaft und einem „halben Hausrat“ betritt sie das Bord des Schiffes, ihre Tochter lässt sie bei der Großmutter. Zu dem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, was sie erwartet. Aber auch von der Tatsache, dass sie nur einen einzigen Rucksack mit zu der Hütte ihres Mannes bringen darf oder den Drohungen des Kapitäns, sie als Frau nicht in der Eiswüste an Land zu bringen,  lässt sie sich nicht unterkriegen und richtet sich langsam auf der Landzunge ein. Mit ihr übernachtet noch ein junger Norweger namens „Karl“ an diesem nördlichen Punkt. Beide Männer freuen sich, endlich eine Frau für den Haushalt und das Kochen zu haben.

Wir schreiben das Jahr 1934 und aus heutiger Sicht erscheint das Unternehmen geradezu naiv. Ohne moderne Ausrüstung oder Vitamintabletten, aber mit einer großen Seelenruhe passen die drei sich an die Umgebung an. Das besondere ist, dass nicht nur Außen-, sondern auch Innenwelt beschrieben werden. Die Autorin und Malerin erzählt, wie sie und ihre Sicht auf die Welt sich mit den Jahreszeiten verändern und was in einem vorgeht, wenn man nach Monaten der Dunkelheit die ersten Sonnenstrahlen erblickt, immer unterstützt von ihren Kunstwerken.

Über die Zeit entwickelt sich die Holzhütte für sie von einer Schuhschachtel zu einem sorgsam gepflegten Zuhause. Selbst bei zweistelligen Minustemperaturen wird gewischt. Langsam nimmt jeder der Mitreisenden seinen eigenen Wirkungskreis an. Der eine liest, die andere flickt und der dritte repariert. Damit genügen sie sich und als sie irgendwann eine Zeitung in der Hand halten, wundern sie sich über die sogenannte Zivilisation. Wenn man zehn Monate in einem einfachen Bretterverschlag überleben kann, was heißt das dann für die Existenz außerhalb? Vor allem: Wer ist man selber, wenn es keine anderen Menschen definieren? Manchmal sitzt Christiane Ritter tagelang alleine in der Hütte, wenn die anderen jagen. Sie akzeptiert diese Rollenverteilung, zumal sie neu in der Klimazone ist. Zunächst putzt und näht sie emsig, als gäbe es einen Grund dazu. Das „Nichts“ und die „Totheit“ draußen schreckt sie ab. Nach der Lektüre des Tagebuchs ihres Mannes wagt sie sich raus und stellt ihre „Lebendigkeit der Landschaft entgegen“, verbunden mit der Frage, wo sie als Person aufhört und endet. All diese Vermutungen und Überlegungen treffen auch den Leser, aber sie prasseln nicht auf einen ein, sondern tasten sich Seite um Seite an einen heran. Am Ende fühlt man selber etwas von dem arktischen Stoizismus, der die Bewohner noch bei akuter Lebensmittelnot ruhig bleiben lässt. Indigenen, auf dessen Land sie siedeln, begegnen sie nicht. Genauso wenig findet die Tagespolitik Erwähnung. Dadurch verstärkt sich noch der Eindruck eines etwas unwirklichen und zeitlosen Ortes, wie er der Autorin vermutlich vorgekommen ist.

Nebenbei bekommt man ein Gefühl davon, wie das Selbstverständnis damals als Frau war und was für ein ungewöhnliches Ereignis die Reise von Christiane Ritter gewesen sein muss. Insgesamt nicht nur ein großartiger Reiseroman, sondern vor allem ein packendes Plädoyer für mehr Gelassenheit und Dankbarkeit – als einer der wenigen Polarberichte aus weiblicher Perspektive.

Die Autorin Christiane Ritter wurde 1897 in Tschechien als Sohn einer Musikerin und eines Porzellanmanufakturisten geboren. Ihren Mann Hermann Ritter heiratete sie mit 20. Selber strebte sie eine Karriere als Künstlerin an. Laut ihrer Tochter Karin hat der Winter im Norden sie sehr geprägt, jedoch ist sie nie mehr zurückgekehrt.  Während des Krieges arbeitete Hermann Ritter als Offizier auf einer meteorologischen Station in der Arktis, in Anbetracht der Natur überredete er jedoch schließlich einen Gefangenen, ihn festzunehmen und somit seinen eigenen Kriegseinsatz zu beenden.

Besonderer Tipp: Wer nach der letzten Seite noch einmal überwintern möchte, sollte einfach wieder von vorne anfangen. Spannend ist, die charakterliche Entwicklung Christiane Ritters von hinten zu erleben. Hier gibt es außerdem die Möglichkeit, die „Ritter-Hütte“ virtuell zu betreten. Welchen Ort empfehle ich zum Lesen? In einer Sturmnacht unter der Bettdecke bei schwachem Licht, da kommt richtige Arktisstimmung auf. Oder im Hochsommer auf der Wiese, zur Abkühlung.

Buchcover "Eine Frau erlebt die Polarnacht"
Buchcover: ullstein-buchverlage.de
  • Biographie / Autobiographie / Reiseliteratur
  • Ullstein Taschenbuch
  • Broschur 192 Seiten
  • ISBN: 9783548377315

Beitragsbild: pixabay.com / FlorenceD-pix

1 comment
  1. Liebe Anna Abraham,
    mit großer Freude den Bericht gelesen, danke dafür! Es ist mein Lieblingsbuch – schon seit vielen Jahren….
    Einmal durfte ich tatsächlich in den 1990iger Jahren an dieser Hütte stehen – allerdins im August und der Aufenthalt war nach 14 Tagen beendet. Trotzdem ein unvergesslicher Eindruck von Spitzbergen, auf den Touren rund um die Uhr hinauf auf die Berge, über die Gletscher und weit hinten am Horizont hat sich schon das Packeis angekündigt. Vielleicht machen Sie sich auch mal auf die Reise in Zukunft?
    Alles Gute und freue mich auf die nächsten Berichte.
    Sonja-Maria Münkle, Detmold

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