Zwischen Scham und Armut

Die aktuelle Situation um Corona macht die Arbeit der Ehrenamtlichen bei der Tafel in Nordhorn nicht einfacher. Wir haben die Helfer vom Supermarkt bis zum Feierabend begleitet.

Die Zufahrt zur Nordhorner Tafel ist unscheinbar. Nur ein kleines Schild an einer Hauswand weist auf die Hilfsorganisation hin. Auf dem Hof vor der Ausgabe sitzen ungefähr 30 Menschen auf weißen Plastikstühlen. Um die Beine der Wartenden flitzen einige Kinder und spielen Fangen. Im Moment dürfen wegen Corona nur zwei Kunden gleichzeitig die Tafel betreten. Einige wippen ungeduldig mit den Beinen. In kürzester Zeit müssen die Kunden bedient werden – die Nächsten warten schon auf ihre Portion Lebensmittel. In der Ausgabe liegen die Waren schon geordnet und erlesen in den Regalen. Doch bis dahin ist ein langer Weg.

Morgens um halb acht ist für die Ehrenamtlichen der Nordhorner Tafel Dienstantritt. Auf dem Hof vor der Tafel selbst warten schon die ersten Helfer, sitzen auf abgenutzten Holzbänken. Sie begrüßen sich wie alte Freunde, jeder duzt den anderen. Bei einer Zigarette oder einem Kaffee wird gescherzt und gelacht – momentan aber nur auf Abstand. Sie sind Akademiker, Geflüchtete, Studenten, Sportler und Arbeitslose aus zwölf Nationen und sorgen dafür, dass hier nachmittags die Ausgabe stattfinden kann.

Drei Fahrer und drei Beifahrer machen sich heute auf, um von Bäckereien, Supermärkten und Kantinen Lebensmittel abzuholen, die für den Verkauf nicht mehr geeignet sind – für den Verzehr meist jedoch allemal. Nils und Erwin sind heute als Team eingeteilt und besprechen den Fahrplan. Erwin trägt eine dunkle Weste mit dem leuchtend orangefarbenen Emblem der Tafel, Nils trägt ein dunkles, abgetragenes Hemd. „Gerade kam ein Anruf, eine Bäckerei hat noch Überschuss, die kommt jetzt spontan mit auf die Liste“, erklären die Helfer.

Beim Lidl am Heideweg werden sie schon erwartet. Die beiden Ehrenamtlichen sind ein eingespieltes Team. Während Erwin den großen Kühltransporter an die Laderampe fährt, läuft Nils mit den Mitarbeitern der Filiale in das Lager. Die Begrüßung ist herzlich. Backwerk, Joghurts und Champignons landen heute in den grünen Behältern der Tafel – alles, was im Laden nicht mehr verkauft werden kann und sonst als Abfall entsorgt werden müsste.

Schon an der Laderampe sortieren die Helfer der Tafel die ersten Lebensmittel aus. | Foto: T. Konjer

Im Lager des Supermarkts steht ein Mülleimer für all das, was auf den ersten Blick nicht mehr verzehrbar ist. Erwin entsorgt eine verdorbene, ausgelaufene Wassermelone. „Wir können hier ja keinen Müll einsammeln.“ Auch eine Menge Brokkoli ist dabei. „Der Kopf hier ist ja mehr gelb als grün, den nehmen wir nicht mit“, ruft Nils. Nachdem alle Kisten sorgfältig im Kühlwagen verstaut wurden, räumen sie auf. Erwin wirft den Verpackungsmüll in die Tonnen. „Das gehört dazu. Wir versuchen, hier nett und zurückhaltend zu sein, wir wollen ja schließlich zurückkommen“, erklärt Nils. Dann setzt er sich die Lesebrille auf und schreibt einen Lieferschein. Er muss quittieren, wie viele Kisten Lebensmittel er wo eingesammelt hat.

Dann geht es zum nächsten Supermarkt. Am Lieferanteneingang wartet schon Angelique Berner auf die beiden Mitarbeiter der Tafel. Sie schiebt zwei randvolle Einkaufswagen aus der Filiale. Schon seit fünf Jahren steht sie regelmäßig mit der Tafel in Kontakt. „Wir haben Tage, an denen karren wir hier vier große Einkaufswagen raus. Das ist oft Aktionsware, die nicht so gut verkauft wurde. Über das Wochenende läuft immer die meiste Ware ab. An einigen Tagen können wir aber auch nur ganz wenig spenden“, erklärt sie. Zumindest heute ist für die Tafel ein guter Tag: Die Einkaufswagen sind voll mit abgelaufener Marmelade, Chips und Süßigkeiten. Ware, über die sich Erwin freut. „Wenn ich Kinder sehe, die sonst nie Süßes bekommen und wir ihnen dann etwas in die Hand drücken können, geht mir das Herz auf.“

Erwin und Nils sind wieder an der Tafel angekommen. Dort warten schon die nächsten Helfer auf die heutige Ausbeute. Mit einer Sackkarre befördern sie die großen, schweren Kisten voller Lebensmittel in das Gebäude. Erwin und Nils können an der Laderampe immer nur grob aussortieren. Um all jene Lebensmittel, die nicht mehr genießbar sind, zu erkennen, muss man schon genau hinsehen. Darum kümmern sich nun vier bis fünf ehrenamtliche Mitarbeiter. Auf einer großen, abgenutzten Metallfläche wird nun gesichtet. Dabei darf natürlich nichts vergammelt sein, auch auf das Mindesthaltbarkeitsdatum achten die Freiwilligen. Ist es weit überschritten, wird das Lebensmittel entsorgt. Milchprodukte, Eier und Aufschnitt kommen ins Kühlhaus.

Hasna aus Syrien arbeitet seit etwa drei Monaten ehrenamtlich bei der Nordhorner Tafel. In der Kiste vor ihr liegen jede Menge Tomaten, einige davon sind schon verschimmelt. Sie berichtet: „Das Prinzip, nach dem ich beim Sortieren vorgehe, ist ganz einfach: Alles, was ich noch essen würde, wird weitergegeben. Unsere Kunden hier haben nicht weniger verdient.“

In den Räumen der Tafel wird gründlich sortiert. Verdorbene Lebensmittel kommen zum Bauern. | Foto: T. Konjer

Heute ist besonders viel Obst und Gemüse dabei. Vor allem Bananen mit einigen braunen Stellen, Kartoffeln die leicht auskeimen und viele Packungen Erdbeeren werden eingeräumt, aber auch exotische Früchte wie Kumquats und Drachenfrucht sind dabei. Ein Helfer lehnt sich gelassen an den Tresen, zupft seinen Mundschutz zurecht und erzählt: „Im Moment haben wir den Luxus, Brot, das schon ein wenig länger abgelaufen ist, auszusortieren. Es gibt sonst nicht immer so viel davon.“ In kleine Tonnen aus dickem Plastik, die schon ziemlich verkratzt und schmutzig sind, wandert der Abfall. Volle Tonnen werden vor der Tafel an einer Wand abgestellt und gehen dann später zu einem Bauern.

Kunden – so werden die Bedürftigen genannt, die das Angebot der Tafel nutzen. „Den Menschen hier mit dem nötigen Respekt zu begegnen, ist natürlich wichtig. Du kannst dir nicht vorstellen, wie vielen traurigen Schicksalen ich in all der Zeit schon begegnet bin“, erklärt Wolfgang Vox. Er leitet die Tafel mit seiner Frau schon seit mehr als 16 Jahren. Rund 170 registrierte Helfer sorgen an sechs Tagen der Woche dafür, dass jeden Dienstag und Mittwoch die Ausgabe stattfinden kann. Wolfgang Vox geht noch etwas anderes durch den Kopf: „Für Bedürftige ist es ziemlich schwer, das erste Mal zur Tafel zu kommen. Wir haben hier mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Viele Leute denken, die Lebensmittel, die wir austeilen, wären schlecht. Sich selbst einzugestehen, dass man auf unsere Hilfe angewiesen ist, um zu überleben, ist schwer. Immer wieder beobachten wir, dass sich Kunden dafür schämen, zur Tafel zu kommen. Aber andersherum sollte es sein: Die Leute sollten sich schämen, dass so viele gute Lebensmittel weggeworfen werden, nur weil sie kleine Schönheitsfehler haben.“

Damit es während der Ausgabe schnell gehen kann, werden alle Lebensmittel vorher sorgfältig sortiert. | Foto: T. Konjer

Bevor die Kunden eingelassen werden, versammeln sich alle Mitarbeiter, die heute bei der Ausgabe helfen. Wolfgang Vox bespricht mit ihnen, was sie heute reichlich vergeben können – und was eher sparsam. „Heute kriegt jeder Kunde nur eine Packung Aufschnitt. Wir haben außerdem einen kleinen Engpass, Milch und Eier kriegen heute nur Kinder.“

Vor der Tür warten schon einige Menschen. Jeder von ihnen hat einen Ausweis und eine Nummer, die besagt, zu welcher Uhrzeit sie kommen sollen, um die Corona-Ansteckungsgefahr zu minimieren. 1200 Personen aus 31 Ländern kommen jede Woche zu den Ausgaben der Nordhorner Tafel. Manchmal haben die Helfer um 18 Uhr Feierabend, einige Ausgaben ziehen sich aber auch bis nach 21 Uhr. Viele der Helfer sind selbst Kunden der Tafel. Das Mithelfen hat einen Vorteil: Sie dürfen vor sich vor allen anderen bedienen.

Als Kunde registrieren lassen kann sich jeder, der weniger als 910 Euro im Monat erhält. So auch Helmut. Er ist seit 16 Jahren Kunde der Tafel. „Mich hat die Tafel schon oft gerettet. Viel Rente habe ich nämlich nicht.“ Er wartet gerade darauf, aufgerufen zu werden. Zeit müsse man für die Ausgabe schon mitbringen sagt er, das sei für ihn aber kein Problem. „Mittlerweile kennt man hier auch schon Leute, mit denen man sich unterhalten kann. Darauf freue ich mich immer.“

Dann wird Helmut aufgerufen, mit Mühe stützt er sich auf einen Einkaufswagen. Bei der Ausgabe wartet ein Helfer auf ihn. Kurz sprechen sie sich ab – eher Weißbrot oder dunkles Brot, Käse oder Wurst? „Sonderlich wählerisch darf man hier nicht sein, ich nehme einfach, was ich kriegen kann“, sagt Helmut Meier. Auch die Zeitung spendet regelmäßig den Drucküberschuss. Wichtig für Kunden, die keinen Zugang zum Internet haben und einen Job oder eine Wohnung suchen, sagt Wolfgang Vox. Meier wirft die Ausgabe von vorgestern in seinen Einkaufswagen. „Ich möchte ja auf dem neusten Stand sein.“ Zwei Euro kostet die gesamte Kiste, Kinder bezahlen für ihre Portion nur 50 Cent.

Tafel-Ausgabe / Foto: T. Konjer
Momentan dürfen nur zwei Kunden die Tafel gleichzeitig betreten – das setzt die Helfer unter Zeitdruck. | Foto: T. Konjer

Versteh mich nicht falsch, natürlich sind wir dankbar für die Ware der Supermärkte. Ich sehe das aber gar nicht mehr als Spende an, denn letztlich sparen wir denen eine Menge Geld. Bio-Tonnen, in die die Ware sonst kommen würde, kosten sehr viel.“ Mit einigen Filialen hatte Wolfgang Vox auch schon Ärger. Zu einer Supermarktkette fährt die Tafel schon gar nicht mehr. „Die haben uns schon Scherben unter die Ware gemischt. Oder Kistenstapel abgeliefert, bei denen in der obersten Kiste eine Packung Waschmittel ausgelaufen ist und die ganze Ladung ruiniert hat.“

Einigen Wartenden kann man die Armut ansehen, anderen nicht. Einige kommen in Jogginghose und Schlappen, andere wiederum mit Oberhemd. Viele der Kunden sprechen nur gebrochenes Deutsch. Da die ehrenamtlichen Mitarbeiter manchmal aus demselben Land kommen, ist das kein großes Problem. Einige Menschen verlassen die Ausgabe sichtlich erleichtert. Erst einmal ist der Kühlschrank zu Hause wieder voll.

Vom Rand aus beobachtet Wolfgang Vox das Geschehen. „Schon heftig, dass wir in einem Sozialstaat einen solchen Aufwand leisten müssen, damit alle satt werden und uns dann auch noch Steine in den Weg gelegt werden.“ Er senkt den Blick und lächelt verzagt. „Wenn ich könnte, dann würde ich alle Tafeln morgen schließen.“ Dann deutet er in die Richtung der vielen Menschen, die vor der Ausgabe warten. „Kann ich aber nicht.“

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