Wie wählen hörgeschädigte Menschen den Notruf?

Hörgeschädigte Menschen haben bislang wenig Möglichkeiten, einen Notruf abzusetzen. In Österreich gibt es schon eine Lösung.
Blaulicht eines Polizeiwagens
Blaulicht eines Polizeiwagens Foto: pixabay.com / fsHH

Als ich neulich an meinem Schreibtisch saß, scrollte ich durch Twitter und fand einen interessanten Tweet, welcher bereits zweieinhalb Jahre alt war. In diesem ging es um die Forderung nach einer Möglichkeit zur Wahl des Notrufes für behinderte Menschen, insbesondere um hörgeschädigte oder gehörlose Menschen. Anfangs dachte ich mir bei diesem Tweet nichts, er war ja schließlich schon ziemlich alt. Dieses Thema ging mir so schnell aber nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder stellte ich mir die Frage: Gibt es so eine Möglichkeit? Man mag ja denken, zweieinhalb Jahre nach der Forderung eines solchen Notrufes sollte sich da etwas getan haben.

Leider nein. Nach ein wenig Recherche bin ich auf verschiedene Quellen gestoßen, welche meiner Befürchtung Recht gaben. Es gibt immer noch keine solche Möglichkeit. Ein fast schon grausamer Gedanke. In Deutschland leben knapp 100.000 Hörgeschädigte. Genaue Zahlen gibt es leider nicht, es handelt sich hierbei um den Durchschnittswert der Schätzungen des Statistischen Bundesamtes vom 5.1.2017 und der Schätzung Verbandes “Deutsche Gehörlosen-Bund e.V.”. Im Durchschnitt sind 0,1% der Bevölkerung in Deutschland Gehörlose. Auf den ersten Blick ist diese Zahl, in Relation zu den knapp 83 Millionen Einwohnern in Deutschland, eher gering. Dazu kommen jedoch noch knapp 262.000 Menschen, die laut dem Statistischen Bundesamt als „Schwerhörig“ gelten. Diese Menschen können in der Regel nicht mehr so gut hören, was jedoch auch ein Nachteil beim Absetzen eines Notrufes sein kann.

Notruf per Telefax zum Teil möglich

Es ist bereits möglich, einen Notfall per Telefax zu melden. Die dafür notwendigen Rufnummern sind dieselben wie bei einem Notruf, also für Polizei die 110* und für den Rettungsdienst bzw. die Feuerwehr die 112*. Die Erreichbarkeit per Fax hat zwar einen geringen Vorteil, jedoch mehr Nachteile als Vorteile. Der größte Nachteil ist der, dass man Mobil keinen Notruf absetzen kann. Man benötigt ein Faxgerät, welches daheim angeschlossen ist. Auch ist es für den Mitarbeiter in der Leitstelle nicht möglich, Rückfragen zu dem eingegangenen Fax bzw. dem auf dem Fax beschriebenen Notfall zu stellen. Heißt im Klartext: Wenn wichtige Informationen auf dem Fax fehlen, kann der Notruf nicht korrekt bearbeitet werden bzw. es werden im schlimmsten Fall die falschen Einsatzkräfte zum Notfallort gesendet.
Jedoch muss man zugute heißen, das per Fax eingegangene Notfälle genauso schnell bearbeitet werden, wie telefonische Notrufe. Auch wenn Fax nicht mehr zur „modernen Welt“ gehört, haben es oft noch ältere Menschen zuhause stehen. So wird ein erster Versuch gewagt, Gehörlose und hörgeschädigte Menschen zu unterstützen.

Welche Forderungen wurden gestellt?

Offen gesagt: Es wurde nur eine Forderung nach einem barrierefreien Notruf gestellt. Nicht mehr – nicht weniger. Kein Schnickschnack, nur eine Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, den Notruf zu tätigen. Dafür wurden mehrere Möglichkeiten genannt, dazu zählen sowohl einheitliche SMS-Notrufnummern, als auch eine bundesweite Notruf-App. Anfang 2020, zwei Jahre nach Bekanntgabe der Forderungen, begannen erste Gespräche zwischen den einzelnen Bundesländern. So wurde bereits beschlossen, eine bundesweite App einzuführen, um auch Gehörlosen Menschen die Möglichkeit zu geben, Hilfe anzufordern. Die Möglichkeit des Sendens einer SMS wurde vorerst auf Eis gelegt. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen soll die App als eine Art Pilotprojekt starten und testen. Danach soll das Projekt auf alle Bundesländer übergreifen und deutschlandweit eingesetzt werden.

Wie kann dieses Thema so lange liegen gelassen werden?

Diese Frage stellt sich mir seit ich den ersten Tweet zum Thema gelesen habe. Der Gedanke daran, knapp 100.000 Menschen die Nutzung des Notrufes fast schon zu verweigern, ist schauderhaft. Das Thema des Gehörlosen-Notrufes wurde bereits vor einem halben dutzend Jahren gefordert, jedoch kam es nie bei vielen Menschen an. Oft wird die Zahl der Gehörlosen kleingeredet. Vor allem in den ländlichen Regionen, muss es schrecklich sein, wenn man weiß das man nie allein den Notruf wählen könnte, ohne die Hilfe einer anderen Person.

In einigen Großstädten wurde das Thema bereits angefangen. In Sachsen, gibt es in den größten Städten – Leipzig, Dresden und Chemnitz – bereits einen solchen Notruf. Jedoch mit einigen Nachteilen. Der größte Nachteil ist wohl die Länge der Telefonnummer. Jede Stadt hat eine eigene Rufnummer, welche wie eine normale Festnetznummer aussieht. Auswendig lernen? Unmöglich. Hier wären einheitliche Rufnummern nötig. Die Freischaltung der Notrufnummern 112* und 110* für die Versendung von SMS wäre der wohl einfachste Schritt. Dies ist jedoch mit weiteren Kosten für den Staat verbunden. Genauere Informationen dazu gibt die Bundesregierung jedoch nicht heraus.

Österreich geht mit gutem Vorbild voran

Seit 2016 bietet Österreich die Möglichkeit Notrufe per SMS oder Fax zu versenden. Dazu steht die kostenfreie Telefonnummer 0800/133133* und die E-Mail-Adresse gehoerlosennotruf@polizei.gv.at* zur Verfügung. Diese Kontaktmöglichkeiten stehen in Österreich rund um die Uhr zur Verfügung. Sollte eine SMS oder ein Fax an diese Telefonnummer bzw. E-Mail-Adresse gesendet werden, so wird dies an die Wiener Polizei weitergeleitet und alle nötigen Schritte werden eingeleitet.

Zusätzliche Informationen vom 28.08.2020:

Guten Morgen Herr Kupfer,
vielen Dank für den gut geschriebenen Artikel!
In Österreich sind wir tatsächlich schon weiter, es gibt nämlich seit 2019 die App DEC112 (https://www.dec112.at), welche für gehörlose Menschen zur Verfügung steht. Mit ihr können Feuerwehr, Polizei, Rettung, Bergrettung und der Euronotruf kontaktiert werden. Das Ganze läuft über eine Chat-Funktion, was den Vorteil bringt, dass die Leitstelle auch Rückfragen an den Notrufer stellen kann. Außerdem werden automatisch Standortdaten und hinterlegte Gesundheitsdaten übertragen, damit die Abwicklung des Notrufs schneller erfolgen kann.
Die Infrastruktur dahinter basiert bereits auf einem europäischen Standard für digitale Notrufinfrastrukturen (NG112) und kann deshalb auch, mit vertretbarem Aufwand, in anderen Ländern zur Verfügung gestellt werden. In diesem Jahr gab es bereits erste Tests von länderübergreifenden Notrufen mit Italien, welche erfolgreich abgeschlossen wurden.
Heißt: Eine Notruf-App, welche sich immer zur nächstgelegenen Leitstelle verbinden kann, ohne dass man sich Gedanken um die landesspezifische Telefonnummer machen muss. Und das innerhalb der gesamten EU. Bis eine so große Verfügbarkeit gegeben ist, wird es aber vermutlich noch eine Weile dauern.
An dem ganzen Konstrukt arbeitet seit 2015 unsere private Initiative. Mittlerweile unterstützt uns, zusätzlich zu Notruf Niederösterreich, auch das österreichische Innenministerium, was uns natürlich sehr freut.
Liebe Grüße vom DEC112-Team,
Gabriel Unterholzer

Vielen Dank an Gabriel Unterholzer vom DEC112-Team, welcher mir diese Informationen als Kommentar unter diesem Artikel bereitgestellt hat.

*Diese Informationen sind nur zur Veranschaulichung eingefügt. Wir bitten euch, diese Telefonnummer(n) und E-Mail-Adresse(n) nur zu nutzen, wenn ihr euch in einer Gefahrensituation befindet und Hilfe benötigt.

Beitragsbild: pixabay.com / fsHH

4 comments
  1. Guten Morgen Herr Kupfer,

    vielen Dank für den gut geschriebenen Artikel!

    In Österreich sind wir tatsächlich schon weiter, es gibt nämlich seit 2019 die App DEC112 (https://www.dec112.at), welche für gehörlose Menschen zur Verfügung steht. Mit ihr können Feuerwehr, Polizei, Rettung, Bergrettung und der Euronotruf kontaktiert werden. Das Ganze läuft über eine Chat-Funktion, was den Vorteil bringt, dass die Leitstelle auch Rückfragen an den Notrufer stellen kann. Außerdem werden automatisch Standortdaten und hinterlegte Gesundheitsdaten übertragen, damit die Abwicklung des Notrufs schneller erfolgen kann.

    Die Infrastruktur dahinter basiert bereits auf einem europäischen Standard für digitale Notrufinfrastrukturen (NG112) und kann deshalb auch, mit vertretbarem Aufwand, in anderen Ländern zur Verfügung gestellt werden. In diesem Jahr gab es bereits erste Tests von länderübergreifenden Notrufen mit Italien, welche erfolgreich abgeschlossen wurden.
    Heißt: Eine Notruf-App, welche sich immer zur nächstgelegenen Leitstelle verbinden kann, ohne dass man sich Gedanken um die landesspezifische Telefonnummer machen muss. Und das innerhalb der gesamten EU. Bis eine so große Verfügbarkeit gegeben ist, wird es aber vermutlich noch eine Weile dauern.

    An dem ganzen Konstrukt arbeitet seit 2015 unsere private Initiative. Mittlerweile unterstützt uns, zusätzlich zu Notruf Niederösterreich, auch das österreichische Innenministerium, was uns natürlich sehr freut.

    Liebe Grüße vom DEC112-Team,
    Gabriel Unterholzer

    1. Hallo Herr Unterholzer,
      Vielen Dank für diese weitreichende zusätzlichen Informationen.
      Ich habe diesen Kommentar als Update in den Artikel eingebunden.
      Vielen Dank für Ihre Mithilfe & noch ein schönes Wochenende
      Liebe Grüße, Julian Kupfer

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