Der Krieg in Syrien, die Annexion der Krim oder der Nahostkonflikt – sie alle sind gewaltsame Auseinandersetzungen, mit denen sich in den Medien immer mal wieder auseinandergesetzt wird. Was jedoch nur den allerwenigsten bewusst ist:
In diesem Moment leben rund 415 Millionen Kinder in Kriegsgebieten, sind dort geboren oder aufgewachsen und es flüchten rund 80 Millionen Menschen vor Krieg und Gewalt. Alle drei Minuten werden mehr als eine Person durch bewaffnete Konflikte getötet, vor fünf Jahren betrug die Zahl getöteter Menschen in Kriegsgebieten mehr als drei mal so viel.
Diese Zahlen entstehen nicht alleine durch die wenigen Kriege, deren Nachrichtenwert als groß genug empfunden wird, um von ihnen zu berichten. Sie sind ebenfalls das Ergebnis der vielen verborgenen Konflikte, die wir nicht zu sehen zu bekommen. Diese gewaltsamen Auseinandersetzungen bleiben länger als die Kameras, sie bestehen auch nachdem die Berichterstattung zu ihnen beendet wurde, laufen im Verborgenen weiter, töten und verletzen Menschen und zwingen Millionen in die Flucht.
Um ein besseres Verständnis für die Ausmaße von Kriegen und Konflikten, die nicht auf der täglichen Medienagenda stehen, zu bekommen, reicht es, die Zahlen mit denen von besser abgedeckten Konflikten zu vergleichen. Von den rund 415 Millionen Kindern, die in Kriegsgebieten leben sind zum Vergleich ‚nur‘ rund 8,5 Millionen syrische Kinder, im Gazastreifen sind rund eine Million Kinder von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. Beide hin und wieder in den Medien abgedeckte Krisen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein von täglich stattfindenden bewaffneten Konflikten weltweit.
Das Verständnis von vergessenen Konflikten
Konflikte, die als vergessen gelten, sind meist gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen weder politische, noch geographische oder kulturelle Nähe zu unserer westlichen Gesellschaft besteht. Sie interessieren und betreffen uns schlichtweg nicht genug, damit wir uns damit auseinandersetzen müssten. Sie haben keinerlei Auswirkungen auf unser tägliches Leben und rufen demnach wenig bis kein Gefühl der Bedrohung, Angst oder Trauer in uns hervor. Sie sind uns egal. Diese Konflikte finden vor allem in Afrika oder Südostasien statt. In Ländern, in denen ohnehin menschenunwürdige Lebensbedingungen herrschen und Regime ihre Bürger:innen unterdrücken.
Am stärksten vernachlässigte Konflikte
Die Menschenrechtsorganisation Norwegian Refugee Council veröffentlicht dazu jedes Jahr eine Liste der zehn am stärksten vernachlässigten Konflikte weltweit. In die Auswahl fließen Kriterien wie die Abwesenheit von medialer Öffentlichkeit, von politischem Willen etwas an der Situation zu ändern, sowie von ausländischer Hilfe. Für das Jahr 2020 sind acht Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent sowie zwei in Südamerika von über 40 Krisen die zur Auswahl standen, allesamt ebenfalls vergessene Konflikte, ausgewählt worden.
Zu den acht vernachlässigten Krisen in Afrika zählen Mali (10), die Zentralafrikanische Republik (9), Äthiopien (8), Burkina Faso (7), Nigeria (6), Burundi (3), Kamerun (2) sowie das Land, dessen humanitäre Katastrophe am stärksten vernachlässigt wurde, die Demokratische Republik Kongo (1). In Amerika bilden Honduras und Venezuela die Plätze fünf und vier. Zum ersten Mal fallen somit zwei und nicht nur ein amerikanisches Land unter die ersten zehn. Neben Honduras hat sich auch in Äthiopien die Situation derart verschlimmert, dass diese beiden Länder zum ersten Mal einen Platz auf der Liste bekommen. Sie verdrängen damit die zwei afrikanischen Länder Niger und Südsudan.
Alle diese Länder leiden unter strukturellen Problemen, dem Klimawandel sowie Gewalt und Armut. Dennoch sind ihre gegenwärtigen Situationen unterschiedlich:
10. MALI
Mali findet sich bereits seit drei Jahren auf der Liste der vernachlässigten Krisen. Die Notsituation dort hat sich seitdem nicht verbessert, im Gegenteil. Auch im Jahr 2020, wie bereits in den Vorjahren, waren die Hilfsaktionen stark unterfinanziert. Die mediale Öffentlichkeit schenkte dem Konflikt keine Beachtung und der internationale Fokus beschränkte sich auf das Bekämpfen von Terror im Land.
Seit Ende des Jahres 2019 hat sich die Vertreibung von Menschengruppen innerhalb des Landes um rund 50% erhöht; es handelt sich dabei um rund 326.000 Menschen. Es wird geschätzt, dass im Jahr 2021 über sieben Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigen werden, ein Anstieg um eine Million im Vergleich zum letzten Jahr.
9. ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK
Wahlunruhen Ende 2020 führten zu großflächigen Vertreibungen und einem Anstieg der ohnehin schon extremen humanitären Nöte in der Zentralafrikanischen Republik. Trotz des von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union unterstützten Friedensabkommens wurden mehr als 300.000 Menschen im Laufe des Jahres neu vertrieben, da die Gewalt bewaffneter Gruppen, Kämpfe um natürliche Ressourcen sowie Auseinandersetzungen zwischen den Gemeinschaften zunahmen.
Die UN-Friedensbemühungen, die zum Schutz der Zivilbevölkerungen beschlossen wurden, können als unwirksam betitelt werden. Rund 2,8 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte aller Zentralafrikaner:innen – benötigten im Jahr 2020 humanitäre Hilfe und trotzdem fehlten die internationalen Schlagzeilen.
8. ÄTHIOPIEN
Im November 2020 eskalierte die Situation zwischen der äthiopischen Regierung und den regionalen Behörden in der Region Tigray. Die dadurch ausgelösten schweren Kämpfe führten zu Massentötungen, sexueller Gewalt, weit verbreiteter Vertreibung und Hunger, wobei Tausende von Menschen im benachbarten Sudan Zuflucht suchten.
Aber nicht erst seit dieser Eskalation hat Äthiopien mit einer humanitären Notsituation zu kämpfen. Auch ethnische Konflikte in anderen Teilen des Landes, die sozioökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und Klimaschocks in Form von Dürre, Überschwemmungen und einer Heuschreckeninvasion schwächten die Lage im Land.
7. BURKINA FASO
Burkina Faso war 2020 die am schnellsten wachsende humanitäre Krise der Welt. Der bereits zweijährige immer weiter eskalierende Konflikt hat das Land nun zum zweiten Mal in die Liste der vernachlässigten Konflikte gebracht. Durch die eskalierende Gewalt verdoppelte sich die Zahl der Vertriebenen und überschritt die Marke von einer Million Menschen – und das bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 20,5 Millionen Menschen.
Neben bewaffneten Aufständen, die eine von 20 Personen zur Flucht gezwungen haben, hat sich auch die Zahl der hungernden Menschen im Laufe des Jahres 2020 fast verdreifacht. Sie ist von über einer Million auf über drei Millionen angestiegen.
Den wohl höchsten Preis für die Gewalt mussten Kinder bezahlen. Burkina Faso verzeichnete die höchste Anzahl von Angriffen auf Schulen in der zentralen Sahelzone, wovon 350.000 Schüler:innen betroffen waren. Die Entführung und Ermordung von Lehrer:innen sowie das Niederbrennen und Plündern von Schulen führte dazu, dass mehr als 2.500 Einrichtungen schließen mussten.
6. NIGERIA
Der Konflikt im Nordosten Nigerias dauert bereits seit zwölf Jahren an, was dazu führte, dass rund elf Millionen Nigerianer:innen im letzten Jahr auf humanitäre Hilfe angewiesen waren, von denen mehr als eine Million Nigerianer:innen überhaupt keine humanitäre Hilfe erhielten. Zwischen sechs und sieben Millionen Menschen waren in der Zeit zwischen den Ernten von Hunger betroffen – die höchste Zahl seit vier Jahren.
Trotz des immensen Bedarfs und eines humanitären Raums, der von Tag zu Tag kleiner wird, unternahm die internationale Gemeinschaft nur wenige politische Anstrengungen. Auch blieben die Schlagzeilen über einen nigerianischen Konflikt aus.
5. HONDURAS
Honduras ist dieses Jahr zum ersten Mal auf der Liste der vergessenen Konflikte zu finden, jedoch dauern Bandengewalt, Ernährungsunsicherheit, geschlechtsspezifische Gewalt und weit verbreitete Arbeitslosigkeit schon seit langem an. Zehntausende Menschen wurden im Jahr 2020 durch Gewalt vertrieben oder verloren die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben.
Auch Naturkatastrophen, verursacht durch den Klimawandel sind in Honduras nichts Neues. Die Tropenstürme Eta und Iota trafen im November 2020 im Abstand von nur zwei Wochen auf Honduras, betrafen fast drei Millionen Menschen und verschlimmerten die Situation stark.
4. VENEZUELA
Der seit sieben Jahren andauernde freie Fall der Wirtschaft in Venezuela sowie die Übernahme des Präsidentenamtes durch die Opposition unter Nikolás Maduro Ende 2019 schwächten die ohnehin prekäre Lage zunehmend. Jede:r dritte Venezolaner:in zählte Ende des letzten Jahres als ernährungsunsicher. 30 Prozent aller Kinder unter 5 Jahren gelten als chronisch unterernährt, was mehr als fünf Millionen Venezolaner:innen seit 2014 aufgrund von Repressionen sowie Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit aus dem Land getrieben hat. Die Krise gehört damit zu den größten Vertreibungskrisen weltweit. Hinzu kommen zehntausende soziale Proteste innerhalb des letzten Jahres.
Venezuela befindet sich bereits seit fünf Jahren auf der Liste der vernachlässigten Krisen und trotzdem erhält die Notlage nahezu keine internationale Aufmerksamkeit.
3. BURUNDI
Das afrikanische Land leidet unter seit Jahren anhaltenden Rechtsverletzungen durch die Regierung, trotz angekündigter Reformen des neuen Präsidenten. Rund 130.000 Menschen waren unter anderem aus diesem Grund bis zum Jahresende innerhalb Burundis auf der Flucht, während über 300.000 burundische Geflüchtete in den Nachbarländern lebten.
Die vorherrschende Ressourcenknappheit innerhalb des Landes wurde vor allem durch die rund 120.000 rückkehrenden burundischen Geflüchteten aus Tansania zusätzlich belastet. Sowohl die Vertreibung, als auch diese Knappheit lässt sich zusätzlich auf Klimagefahren wie schlimme Überschwemmungen und die anhaltende Dürre zurückführen.
2. KAMERUN
Die Menschen in Kamerun mussten 2020 unter drei verschiedenen Krisen leiden. Wachsende Gewalt sowie tödliche Angriffe lösten eine Fluchtwelle aus, die zur Verdopplung der Gesamtzahlen von Vertreibung im Land führten.
Im englischsprachigen Teil Kameruns löste die anhaltende Gewalt neben Vertreibung vor allem aus, dass mehr als 700.000 Kinder nicht in die Schule gehen konnten, Kinder und ihre Lehrer wurden schikaniert, entführt und getötet.
Der Norden des Landes hat besonders unter der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram zu leiden. Dort verschärfte sich die Situation und zwang mehr als 300.000 Menschen aus ihren Häusern zu fliehen. Fast täglich wurden Angriffe gemeldet, die Tötungen, Entführungen sowie die Zerstörung von Eigentum beinhalteten.
Die Lage in der östlichen Gebieten Kameruns ist nach wie vor von einer Flüchtlingskrise geprägt. Hier suchen mehr als 300.000 zentralafrikanische Geflüchtete Schutz.
1. DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO
Die Megakrise, die die Demokratische Republik Kongo heimsucht, hätte 2020 eine starke Reaktion verdient. Stattdessen litten die kongolesischen Gemeinden im Stillen, fernab des medialen Rampenlichts und mit akut geringer internationaler Unterstützung.
Die humanitäre Situation in der DR Kongo verschlechterte sich immens durch einen deutlichen Anstieg der Gewalt und Ernährungsunsicherheit. Das Land wurde zum Schauplatz der größten Zahl an neuen Vertreibungen weltweit. Jeden Tag müssen rund 6000 Menschen aus ihren Häusern fliehen. Insgesamt sind fünf Millionen Kongolese:innen innerhalb des Landes auf der Flucht, eine weitere Million ist aus dem Land geflohen und sucht in den Nachbarländern Schutz.
Die Gewalt und Vertreibung führen dazu, dass große Teile des Landes umbewirtschaftet bleiben. Dazu kommen hohe Obdachlosigkeit und die große Zahl von 20 Millionen auf Hilfe angewiesene Menschen. Im April diesen Jahres ist die Zahl bereits bei 27 Millionen Menschen angekommen, von denen laut UN nur ca. zehn Millionen unterstützt werden können. Zu der ohnehin eskalierten Situation kamen im letzten Jahr zwei Ebola-Ausbrüche die sich ebenfalls negativ auf die humanitäre Situation auswirkten.
Trotz der Präsenz von UN-Friedenstruppen versagen die kongolesische Regierung und die internationale Gemeinschaft weitgehend darin, Zivilist:innen vor dem Tod, Frauen vor Vergewaltigungen durch bewaffnete Männer und Kinder vor der Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen zu schützen. Berichten zufolge operierten etwa 100 bewaffnete Gruppen in den östlichen Teilen des Landes.
Der jahrzehntelange Konflikt hat zu einer Ermüdung der Geber und zu einem Mangel an Bereitschaft geführt, die Notsituation anzuerkennen oder zu bewältigen, die sich vor dem Hintergrund einer langwierigen Krise entwickelt.
Keine Hoffnung auf Besserung
So unterschiedlich diese Krisen in ihren Auslösern zu sein scheinen, so ähneln sie sich doch in einem anderen, dem wohl wichtigsten Aspekt. Sie alle benötigen die öffentliche Wahrnehmung, das Bewusstsein und vor allem die Unterstützung der Weltgemeinschaft.
Als Einzelperson sind die Möglichkeiten, etwas an der Situation vor Ort zu ändern, begrenzt. Dennoch kann es nicht damit abgetan werden. Der Norwegische Flüchtlingsrat NRC formuliert Empfehlungen für die Öffentlichkeit, denen jede:r nachkommen kann.
Zum einen kann sich jeder Mensch bewusster informieren, selbst recherchieren und Journalismus unterstützen, der sich auch mit unpopuläreren Themen ausgeglichen beschäftigt. Zum anderen gilt es, vernachlässigte und vergessene Konflikte stärker auf die Agenda zu setzten, indem darüber gesprochen und ein stärkeres Bewusstsein für deren Existenz geschaffen wird.
Auch das Informieren über Standpunkte von Politiker:innen und Parteien gegenüber humanitären Krisen und Außenpolitik sollte vor dem Gang zur Wahlurne in Erwägung gezogen werden.
Wenn wir humanitäre Katastrophen wirtschaftlich unterstützen, kann es zum Beispiel vermieden werden, jene Krisen zu unterstützen, die die meiste Medienaufmerksamkeit erhalten. Dies ist nicht unbedingt der Ort ist, an dem ihre Unterstützung am meisten benötigt wird.
Auch wenn all das natürlich nicht reicht, um die Krisen in den Ländern zu lösen oder zu ihrer direkten Verbesserung vor Ort beizutragen, gibt es uns doch die Möglichkeit die Konflikte und die betroffenen Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Der Titel dieses Artikels hätte auch „Von den vergessenen Konflikten Afrikas“ lauten können, was ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft darstellt. Die afrikanischen Länder finden vor allem in den westlichen Medien oftmals wenig bis keine Beachtung, da sie eine geringe Auswirkung auf unseren Alltag haben. Was jedoch oftmals vergessen wird ist, dass hinter jedem Konflikt viele Menschen stehen, die zur Flucht gezwungen, misshandelt oder getötet werden. Es darf dabei keine Rolle spielen auf welchem Kontinent sie sich befinden, welcher Religion sie sich zugehörig fühlen oder wie sie aussehen. Dieser Artikel soll mit seinen Kurzportraits genau auf diese Menschen aufmerksam machen, indem er nicht die Konflikte an sich sondern die darunter leidenden Menschen in den Fokus nimmt.
Mit einer breiteren öffentlichen Aufmerksamkeit und einer damit einhergehenden Unterstützung durch die Weltgemeinschaft könnten Flucht- und Konfliktursachen schon bei oder sogar vor deren Entstehung besser bekämpft werden. Bis dorthin wird es ein langer Weg sein, der jedoch nicht zu schaffen ist, wenn nicht versucht wird ihn zu gehen.