Unfall bei Lyon

Kaputte Leitplanken auf der Autobahn bei Lyon
Kaputte Leitplanken – Foto: Louise Zimmermann

Das Schlimmste ist bereits passiert, denken wir alle. Nach dem Einbruch in den Bus kann nichts mehr passieren. Wir verbringen einen schonen Abschluss bei den Wasserspielen. Es ist schon spät, als wir aufbrechen. Der Bus fährt los. Ich sitze auf der rechten Seite am Fenster. Die einen reden noch über die Woche, andere haben schon die Kopfhörer auf den Ohren, der Rest macht die Augen zu und versucht zu schlafen. 

Wir schauen uns noch ein paar Fotos an, die wir über die Tage gemacht haben und spüren, wie unsere Beine immer lockerer werden, die von dem Rumlaufen in Barcelona schon ermüdet waren. „In einem fahrenden Bus schlafen. Horror. Das ist doch viel zu laut und unbequem“, denke ich mir, als ich schließlich meinen iPod auspacke und die Kopfhörer in meine Ohren stecke. Ruhige Musik hilft mir dabei, nach und nach immer mehr zu entspannen und meine Augen zu schließen.

Die erste Raststätte, Fahrerwechsel, Blase entleeren, weiterfahren. lm Bus wird es immer ruhiger, die Beleuchtung ist gedimmt. Einige Zeit vergeht, immer mehr Schüler und Schülerinnen schlafen ein.

5:10 Uhr. Ich packe meine Sachen in meinen Rucksack und höre auf eine Stimme, die mir sagt: „Lass deine Schuhe an, lass sie lieber an.“ Ein hilfreicher Rat. Ich lehne mich an mein Kissen und döse vor mich hin. Schließlich: 5:25 Uhr. Ich erwache schlagartig durch ein Poltern, fast ein leiser Knall. Ein sehr unebener Untergrund bringt den Bus zum Rütteln und man spürt, wie er sich immer weiter nach rechts neigt. Ich bin etwas benommen, aber dennoch hellwach. Laute Schreie, kurze Kreischer kommen auf, als die ersten realisieren, was geschieht. Noch ein Stück poltert der Bus weiter, bis es knallt und ich im Knacken der zerspringenden Scheiben auf dem nassen Grasboden liege. In dem Moment höre ich kein Geräusch. Es kommt mir vor wie Zeitlupe. „Das geht nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich zu verabschieden“, war mein erster Gedanke. Ich begreife, dass ich keinen Schmerz spüre. lm nächsten Moment denke ich, mir sind einige Zähne abgebrochen, es stellt sich jedoch als Glassplitter in meinem Mund heraus. Ich hoffe, dass wenn es mir so geht, bin ich wohl nicht die Einzige. Ich mache meine Augen auf, sehe bekannt Gesichter. Die Unruhe wird größer. „Geht es allen gut?!“, ruft eine Jungenstimme von weiter vorne. Panische Laute von einigen Mädchen erfüllen meine Ohren. Ich schüttle meine Sitznachbarin: „Du musst aufstehen. Ich komme sonst nicht raus. Hallo? Kann mir jemand helfen, mich abzuschnallen?“ Letztendlich schafft sie es aufzustehen und ich drücke mich vom Boden ab, um mich abzuschnallen. Tränen laufen, zitternde Hände ergreifen meine. 

„Geht’s dir gut??”, fragt eine Mitschülerin. „Ja alles okay, was ist mit dir??“, erwidere ich. Mein Rucksack liegt genau neben mir, weshalb ich ihn öffne, mein Handy herausnehme und die Taschenlampe einschalte. Ich erschrecke beim Anblick einiger meiner Freunde. Bluten am Hinterkopf. lm Gesicht. An Armen und Beinen. An Händen. Vereinzelt hört man Menschen rufen. „ICH SEHE NICHTS! Ich habe Blut im Auge!!“, wimmert eine verzweifelte Mädchenstimme. „Was ist mit den Lehrern?! WO SIND DIE LEHRER?!“, kommt es von vorne.

„Oh Gott, wir ersticken hier drin!! Wo sind die Lehrer?!“, kreischt mir jemand ins Ohr. Ich: „Wir können nicht ersticken! Wir liegen auf der Rinne hier! Es kommt von unten Luft rein!“ „Ahhh, mein Rücken!!“ 

Dann endlich. Herr Kramer steht an der Rückscheibe des Busses. Sichtlich geschockt, wie alle anderen, aber dies ist eine große Erleichterung für alle. Ein paarmal noch streift er um den Bus, bis er uns den Auftrag gibt, die Scheibe einzuschlagen. Ein Klirren und der Weg ist frei. Ich steige als eine der Ersten aus dem Bus, schaue mich erst mal um und sehe, dass auch die Notfallluke des Daches geöffnet wurde. „Oh Gott!! Da sind wir runter?!“ Mein Blick wandert über den braunen Erdstreifen, den der Bus beim Herunterrutschen gebildet hat.

Chaos im umgekippten Bus, Foto: Screenshot von einem TV-Bericht, France 3 Rhône-Alpes/Repro: hgn

Es kommt einem wie Minuten vor, die wir abwarten, bis die Sanitäter ankommen. In Wirklichkeit haben wir fast eine dreiviertel Stunde gewartet. Ich wage mich noch ein letztes Mal in den Bus, nehme alles mit, was mir bekannt vorkommt und steige wie­der aus. Die Sanitäter leiten uns auf eine Straße, die oberhalb der Böschung zu einem Parkplatz führt. Dort werden die ersten Bedürftigen auf schwerere Verletzungen untersucht. Ein paarmal noch laufen einige zurück zum Bus und greifen noch nach ein paar bekannten Sachen. Wir laufen gemein­sam die Straße entlang bis zum Parkplatz, setzen uns und die ersten fangen an, ihren Eltern per Handy von unserem Unfall zu berichten. Dann warten wir. Wir sitzen einfach auf dem Parkplatz, mit dem, was wir ergattern konnten und warten.

Einige Stunden vergehen, bis auch ich anfange zu realisieren, was passiert ist. Die Verletzten begeben sich nach und nach auf den Weg ins Krankenhaus. Wir warten noch eine Weile, bis wir mit den Leuten der anderen Klasse zu einer Raststätte gefahren werden, an der wir uns ausruhen können. Der Schock macht sich bemerkbar, als der Van die Autobahn befährt und eine unebene Stelle der Straße überquert. Ich zucke sofort zusammen. Nun machen sich auch meine Schmerzen im Rücken, Kopf und Arm mehr und mehr bemerkbar. Wir fahren wenige Minuten, da kommen wir schon auf dem Parkplatz der großen Raststätte an. 

Wir verbringen fast den ganzen Tag dort. Einige Journalisten haben bereits von dem Unfall gehört und versammeln sich vor Ort. Wir sind nicht sonderlich davon begeistert. Erst recht nicht, als sie anfangen, eine Kamera aufzustellen und uns unerlaubt zu filmen. Wir sitzen betrübt und immer noch geschockt draußen oder drinnen und hier und da brechen die Tränen immer mal wieder aus. Eines ist klar: Alle wollen nach Hause.

Es dauert Stunden, bis endlich die schwerer Verletzten aus dem Krankenhaus zurückkommen und uns erleichtert in die Arme fallen. Wieder fließen Tränen. Auch der Ersatzbus ist bereits angekommen. Die Freude darüber halt sich allerdings in Grenzen. Niemand mochte mehr in einen Bus steigen, geschweige denn damit fahren. Doch es geht nicht anders. Wir sind uns im Klaren darüber, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass noch einmal etwas geschieht, dennoch ist die Angst bei vielen sehr groß. Erste Panikattacken treten schon beim Einsteigen auf und auch ich bleibe davon nicht verschont. Ich ergreife die Hand meines Nebenmannes, denn das ist das Einzige, was mich in der Situation beruhigen kann. Als der Bus losfahrt, bessert sich die Lage vorerst nicht im Geringsten. Sobald die Straße etwas uneben wird und der Bus kurz wackelt, zucken alle zusammen.

Der Reisebus kippte um, nachdem er von der Fahrbahn abkam. Foto: Louise Zimmermann

Nachdem der Bus einige Zeit gefahren ist, lasse ich erst die Hand meines Nachbarn wieder los und wir beginnen, uns über das Unglück zu unterhalten. Wir sind gerade mitten drin, da wird die Straße uneben und die Bilder tauchen wieder auf. Wir beruhigen uns wieder. Es ist noch hell draußen und man sieht, dass alles in Ordnung ist. Erst als es wieder dunkel wird, kehrt die Angst zurück. Die Fahrt soll nicht mehr lang dauern. Wir beschließen, einen Film zu schauen, er lenkt Gott sei Dank auch etwas ab. Nahezu alle sind schon über 30 Stunden wach, weshalb es immer schwerer wird, die Augen weiterhin offen zu halten. Ab und zu erschrecke ich durch ein lautes Geräusch vom Film, oder ein Ruckeln des Busses. Wir halten noch ein letztes Mal, bevor wir Saarbrücken erreichen und die Schüler des Ludwigsgymnasiums ausstei­gen. Es ist bereits nach 0:00 Uhr, doch die Strecke ist fast geschafft. Ich beginne mich, nach und nach sicherer zu fühlen. Es ist zwar dunkel, aber ich kenne die Strecke und bin fast zu Hause. 

Kurz bevor wir St. Wendel erreichen, sprechen die Lehrer noch einmal mit uns. Sie drücken aus, dass sie stolz auf uns sind und wir uns alle richtig und gut verhalten haben. Natürlich, sagen sie, waren auch sie aufgebracht, denn auch ihnen ist so etwas noch nie zuvor passiert. Wir klatschen, um auch unsere Dankbarkeit über die Anwesenheit und das Verhalten der Lehrer auszudrücken, dann erreichen wir auch schon unseren Ankunftsort. Mit dem restlichen Gepäck, dass uns geblieben ist, steigen wir aus dem Bus. Ich falle meinen Eltern mit Tränen in den Augen in die Arme und bin unendlich glücklich, dass diese Fahrt vorüber ist. 

Am folgenden Dienstag treffen wir uns mit psychologischer Betreuung in der Schule und sprechen über unsere Gedanken, Erfahrungen und Sichtweisen. Alle sind sich einig, dass das Erlebnis uns alle mehr zusammengeschweißt hat und dass es hilft, darüber zu sprechen. Umso lieber denken wir nun an die wunderschönen Tage, die wir auf unserer Klassenfahrt in Katalonien und dessen Hauptstadt Barcelona verbracht haben und hoffen, dass uns diese Erinnerungen helfen, die Ängste besser zu verarbeiten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Ähnliche Beiträge
Weiterlesen

Alltagsbeschränkungen

Leere Innenstädte, geschlossene Geschäfte, verlassene Schulgebäude und gesperrte Spielplätze – einschneidende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. In ganz…