Für dieses Buch benötigt man vor allem Zeit und jemanden zum Reden. Ein sogenannter „Pageturner“ wurde das Buch von Peer Martin sicherlich nicht und in diesem Fall ist das ein Kompliment. Mithilfe einer fiktiven Reise eines 19-jährigen nomadischen Kanadiers und eines elfjährigen somalischen Kindes gelingt ihm ein Rundumschlag über viele der sozialen Probleme unserer Zeit: Von Beschneidung über Wassermangel, Sinnkrisen und Clankriegen, alles zusammengebunden von dem zentralen Thema des Klimawandels.
Von seiner Wohlstandsidylle angeödet beschließt Mathis Mandel, Nachfahre von Holocaustüberlebenden, seine Heimat zu verlassen und macht sich auf nach Südafrika. Dort möchte er sich einem Flüchtling anschließen und mit ihm die Panamerica begehen, eine Route, die durch Südamerika bis in die USA führt. Mithilfe seiner Kamera und Stift will er seine Erlebnisse festhalten und sich einen Namen als Journalisten machen, so zumindest der Plan. Nachdem er sich von seiner Freundin getrennt hat, wagt er sich in die Nacht Kapstadts und sofort überfällt ihn jedoch eine Gruppe Jugendlicher. In dieser Situation rettet ihn Hope, ein mysteriöses Straßenkind aus Somalien und wird so zum Protagonisten der Reportage. Ein paar Wochen später sitzen sie dann im Flugzeug nach Brasilien, noch wissen sie nicht, was auf sie zukommt. Neben Schmugglern, ehemaligen Rebellen und der Natur bedroht noch eine vierte Komponente das Zweierteam – Hope behauptet, von Somalis verfolgt zu werden, warum, bleibt lange unklar. Durch sein junges Alter und der gleichzeitigen Altklugheit und Verspielheit verleiht Hope als Romanheld der Geschichte Leichtigkeit und passend zu seinem Namen, Hoffnung und Mut. Zwar gibt er seine Geheimnisse nur langsam preis, wächst einem dafür aber umso mehr ans Herz. Während ihrer Reise arbeiten Mathis und Hope auf einer Bananenplantage, leben mit einem indigenen Volk und überqueren den berüchtigten „Darien Gap“ durch den Regenwald, eine Lücke der Panamericana.
Zunächst wirkt es wie das perfekte Sachbuch: Mathis, der abenteuerhungrige Westler, der sein Wissen hauptsächlich aus Büchern bezogen hat und Hope, das Kind, das mit Lebensweisheiten punktet. Am Anfang liest es sich leider manchmal schon als zu konzipiert. Mathis erklärt die Vorgänge in den verschiedenen Ländern oder die Probleme des Klimawandels theoretisch und für Hope bricht er sie dann auf die Sicht junger Leser herunter. Stichwort dafür wird die „Hadley-Zelle“, ein etwas zu häufig verwendeter Insider dafür, dass Mathis mal wieder zu viel Fachjargon verwendet. Es handelt sich übrigens um eine Luftbewegung in den Tropen, die Regen bringt. Belegt werden die Geschichten zwischendrin von einzelnen „fact sheets“, die neben den erschütternden Fakten eine Rubrik „Hoffnung“ beinhalten. Sehr hilfreich in einem Roman, der so realitätsnah wirkt und doch Fiktion ist. Um das ganze für junge Leser ansprechend zu gestalten, sieht man neben dem ursprünglichen Text noch einige dazugekritzelte Kommentare mit ähnlicher Funktion wie der Einwurf „Hadley Zelle“.
Mit der Zeit verwandelt sich Mathis jedoch vom reinen Beobachter hinter der Kameralinse zum Akteur. Genauso verwischen die Grenzen von Opfer und Täter in diesem Thriller. In den Vordergrund rückt dazu immer mehr die Frage, was Mathis wichtiger ist: Seine Story oder das Leben von Hope.
Ein Buch, das sich nicht leicht festlegen lässt, eine aufwühlende Mischung aus Thriller, Roman und Sachliteratur. Schließlich hängt alles zusammen und das ist auch eine der Lehren, die man nach der letzten Seite mitnimmt. Themen wie Migration und Klimawandel haben Auswirkungen auf uns alle und es gibt keine Möglichkeit, sich der Verantwortung zu entziehen, nur sich vor ihr zu verstecken.
Besonderer Tipp: Schenkt das Buch einem Nachbarskind oder jüngerem Verwandten. Für Erwachsene und weniger alte Leser gleichermaßen ansprechend, bildet das Buch eine gute Grundlage über das Thema Flucht und Migration für interessante weitere Gespräche.
Welchen Ort empfehle ich zum Lesen? Nicht alleine, sondern lieber an einem belebten Ort. Hilfreich sind eine Landkarte, um den Weg der beiden nachzuverfolgen und eine funktionierende Internetverbindung. Vor jedem Kapitel erhält man eine Reihe von Suchstichwörtern. So gelingt dem Autoren der Spagat zwischen Information und Fiktion.
Über den Autoren: Genau wie sein Protagonist Mathis Mandel lebt Peer Martin im Moment in Quebec, Kanada. Geboren wurde er allerdings 1968 in Hannover. Während seines Lebens hat er schon Sozialpädagogik studiert und mit Jugendlichen quer durch Deutschland gearbeitet. Auf sein Erstlingswerk „Sommer unter schwarzen Flügeln“ über die Liebe zwischen einem Mädchen aus Syrien und einem jungen Mitglied einer rechten Gang folgten innerhalb von wenigen Jahren fünf weitere Bücher. Auf seiner Website https://www.unter-schwarzen-fluegeln.com/ stellt er sie alle vor und gibt vor allem an, was man nach der Lektüre selber verändern kann. Im Gegensatz zu Mathis hat Peer Martin die Panamericana also nicht selber begangen. Vielleicht sorgt er aber dafür, dass das in Zukunft nur noch wenige versuchen müssen.
Beitragsbild: unsplash.com / Camilo Fierro
- Autor: Peer Martin, Illustrator: Nils Andersen
- Dressler Verlag, erschienen am 22.07.2019
- 544 Seiten
- ISBN: 978-3-7915-0139-0