Heute auf meinem Nachttisch…”Marie des Brebis” von Christian Signol

Anna Abraham hat einen neuen Lesetipp für euch: Ein 30 Jahre altes Buch!
Schafe auf einer Wiese
Schafe auf einer Wiese

Man sieht sie vor sich: Diese sanft geschwungenen Hügel, die kleine Hütte. Dazwischen Steine, auf denen sich eine junge Frau wie eine Echse räkelt. Diese Biographie kommt fast wie Heidi daher, aber ein realistisches Heidi. Eines, in denen sich die Idylle aus der trügerischen Nostalgie befreit und reflektiert. Immer wieder betont Marie de Brebis, dass es sich nur um ihr Leben handelt und viele andere sicherlich unterschiedliche Erfahrungen gesammelt hätten.

Über 80 ist Marie de Brebis, als sie anfängt, Christian Signol ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie beginnt damit, wie sie ihren Namen erhalten hat, damals im Gebiet der Causses du Quercy. Marie des Brebis – Marie der Schafe. Ein Schäfer findet den ausgesetzten Säugling und zieht sie auf, bald ziehen sie bei einem alten Ehepaar mit kleinem Hof ein. In diesen ersten Jahren habe sie kein Unglück gekannt, behauptet sie später. Neben Landschaftsbeschreibungen und schemenhaften Erinnerungen ist der Text von der Frage durchdrängt, woher eigentlich dieses unglaubliche Glücksgefühl kommt. Objektiv besitzen sie nicht viel: Brotsuppe, ab und zu Käse. Von warmen Duschen, Büchern ganz zu schweigen. Und doch scheinen die Menschen der Gegend genügsam zu sein, getragen von der Gewissheit, dass es wieder besser wird. Ein erster Einschnitt wird der Tod von ihrem Ziehvater, nach dem sie tagelang nicht spricht. Nach und nach gewöhnt sie sich jedoch daran und freut sich sehr, sogar zur  Schule zu dürfen. Keine Selbstverständlichkeit, wie sie zugibt. Neben dem Hüten der Schafe genießt sie die Schule. Ansonsten verlässt sie kaum die Wiesen um die Hütte der Zieheltern. Im Alter von 12 legt sie die Grundschulprüfung ab und verlässt danach ohne Murren das Gebäude, um ihren Eltern weiter zu helfen.

Doch bald trifft ein andere Nachricht ein: Der erste Weltkrieg hat begonnen. Noch  wissen die Dorfbewohner nicht, was das bedeutet. Marie erinnert sich vor allem an den Klang der Kirchenglocke, obwohl es nirgendwo gebrannt hat. Noch eine andere Veränderung ist bei ihr eingezogen – Florentin, ein Junge aus der Gegend, der von nun an bei der Familie wohnt und im Gegenzug mithilft. Mit ihm beginnt einer der schönsten Erzählstränge des Buches – die einer einfachen, anspruchslosen Liebe. Die Freundschaft der beiden benötigt nicht viel mehr als das gegenseitige Vertrauen und das gemeinsame Hüten der Schafe. Als Florentin schließlich einberufen wird, versprechen sie sich, nach seiner Rückkehr zu heiraten. Den Sommer 1918 beschreibt sie als einen der schönsten ihres Lebens, mittlerweile spielt auch das Dorf eine größere Rolle. Sie freut sich auf die traditionellen Feiern und Tänze.

Obwohl der Hauptfokus auf ihrem Innenleben liegt, erfährt man so doch eine Menge über den Alltag der damaligen Zeit und vor allem über die Veränderungen, die die Gegend erlebt. Deutlich macht Marie jedoch, dass ihre Erfahrungen nicht repräsentativ sind und das will sie auch gar nicht erreichen.

Die Zeit schreitet voran, Maries Zieheltern sterben und nach einem Streit mit den Erben entscheiden sich die beiden für ein kleines Haus in der Nähe eines Steinbruches. Obwohl die Hütte sehr baufällig ist, nimmt Marie mit ihrer ruhigen und sanften Art an, die Freude ihres Mannes im Hinterkopf. Bald steht für sie die Familie mit einem ersten Kind im Vordergrund. Der Steinbruch floriert und so wechselt der Haushalt immer wieder vom Wohlstand zur Armut. Ihre Tage verbringt Marie weiterhin mit den Schafen und saugt die Mittagshitze auf den Steinen in sich auf. Dabei lernt sie ihre Nachbarin, eine „Kräuterhexe“, kennen. Während einer Verbrühung ihres Kindes entdeckt Marie ihre eigenen Heilkräfte. Rational sind diese nicht erklärbar, aber gerade diese Mystik und der Glaube an Gott nehmen in Maries Leben eine wichtige Stellung ein.

Eine weitere große Probe wird der Zweite Weltkrieg, in dem Marie eines ihrer Kinder an den Widerstand verliert. Trotz des Friedens danach kehren die Menschen nicht zu ihrem ursprünglichen Leben zurück. Kaum eines der Kinder des Dorfes ergreift den Beruf der Eltern und auch Maries eigene Kinder möchten lernen, studieren. Schwer wiegt die Szene, in der Marie und Florentin ihre 18-jährige Tochter am Bahnhof verabschieden, die einem inneren Drang folgend nach Paris zieht und Medizin studiert. Innerhalb weniger Jahre zerfällt die Gemeinschaft, bis kein Laden mehr übrig bleibt.

Von Seite zu Seite verdichtet sich, dass es dieses einfache Leben, wie zu Maries Kindheit, in der Gegend nicht mehr gibt. Trotzdem ist es kein trauriges oder verbissenes Buch. Stattdessen erfreut man sich an der Genügsamkeit von Marie und ihrer Zuversicht, mit der sie noch im hohen Alter die Schafe hütet. Sie weint der Vergangenheit nicht nach, sondern ist dankbar für die Erlebnisse, wohlwissend wie entbehrungsreich sie manchmal sein konnte. Was sich durch die ganzen Jahre zieht, ist eine starke Verbindung zur Natur.

Besonderer Tipp: Fragt eure Großeltern nach ihren Lebenserfahrungen. Wie sah ihr Alltag in der Kindheit aus? Wuchsen sie in einer Dorfgemeinschaft auf? Was wurde von Ihnen erwartet?

Zusätzlich zum Leseerlebnis tragen Bilder der weit geschwungenen Hügel bei, wie ihr hier sehen könnt.

Welchen Ort empfehle ich zum Lesen? Einen Platz in der Natur, vielleicht sogar auf einem Stein in der Sonne.

Über den Autoren: Christian Signol verbrachte seine Kindheit selber in einem kleinen Dorf in der Dordogne in Frankreich, in der Nähe der Causses du Quercy. Mit elf Jahren wurde er jedoch auf ein Internat geschickt. Die Erfahrung der „Entwurzelung“ bezeichnet er als eine zentrale Triebkraft für seine Arbeit als Autoren. Seitdem widmet er sich hauptsächlich der Beschreibung von dem Leben, das er verlassen musste: Naturverbunden und genügsam. Zwei Jahre vor ihrem Tod vertraute Marie des Brebis ihre Erinnerungen Christian Signol an. Er wünscht ihr, im Himmel wieder in einem Dorf voller Tänze zu leben.

Buchcover “Marie des Brebis” von Christian Signol
Bild: Verlag Urachhaus
  • Autor: Christian Signol, Übersetzerin: Corinna Tramm
  • Verlag Urachhaus, 19. Auflage 2019
  • 192 Seiten
  • ISBN 978-3-8251-7580-1

Beitragsbild: unsplash.com / Tina Kuper

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