Heute auf meinem Nachttisch… “Der Gesang der Flusskrebse” von Delia Owens

Delia Owens verwebt schmerzlich schöne Erzählungen von der Natur North Carolinas in einer Kriminalgeschichte. Es geht um Kya, die alleine mit ihrem Vater in einer Hütte im Marschland North Carolinas wohnt.
Vögel im Himmel
Vögel im Himmel Bild: unsplash.com / Aditya Saxena

Noch lange schaut die junge Kya ihrer Mutter nach, als diese vor der Hütte mit ihrem Koffer verschwindet – ohne sich umzudrehen. Damals ist das Mädchen sechs Jahre alt. Ihre Mutter wird sie nicht wieder sehen. Auch der Rest ihrer Familie wird sie nach und nach verlassen – erst die Schwestern, schließlich der ältere Bruder. Er ist der einzige, der sich verabschiedet. Am Ende wohnt Kya alleine mit ihrem Vater in der Hütte im Marschland North Carolinas, mehrere Stunden Fußmarsch entfernt von der nächsten Stadt. Häufig angetrunken und gewaltbereit ist der Vater keine große Stütze und bald ist sie ganz auf sich allein gestellt.

Ihre Liebesgeschichte mit der Natur beginnt in dem Moment, als sie sich das erste Mal traut, mit dem Boot der Familie raus in das Labyrinth der Wasserarme zu fahren. Die Menschen haben sie verlassen, doch ihre Möwen warten jeden Morgen auf sie. So wird die Weite des Marschlandes zu einer Konstanten in ihrem Leben, während der Kontakt mit der Menschenwelt nur sporadisch ist. Durch den kurzen Besuch in einer Schule erahnt man etwas von den Vorurteilen, denen sie in der Gesellschaft ausgesetzt ist. Man erachtet sie als Wilde, zurückgeblieben, weil sie so wenig redet und später wird es zu einer Mutprobe für Jungen, in der Nacht an ihrer Tür zu klopfen. In den Sümpfen und Graslandschaften dagegen kennt sie sich aus, sie beginnt, Nester und Federn zu sammeln. Manchmal verbringt sie ihre Tage damit, die Tiere zu beobachten, immer getrieben von der Frage, warum eine Mutter ihr eigenes Kind verlassen würde.

Schmerzlich schöne Erzählungen von der Natur North Carolinas verwebt Delia Owens mit einer Kriminalgeschichte. Chase Andrews ist gestorben, seine Leiche findet man ohne Spuren unterhalb des Feuerturmes von Barkley Cove. Unterhalb der Bewohner verbreitet sich die Ansicht, dass es die Wilde, dieses Marschmädchen Kya gewesen sein müsse.

In der Kindheit, die sich gemächlich auf die Zeit des Todes Chase Andrews zubewegt, ahnt man davon noch nicht viel und trotzdem ändert sich das Leben Kyas dramatisch. Nachdem sie außer zum Lebensmittelhändler Jumpin und seiner lieben Frau kaum menschlichen Kontakt hatte, öffnet sie sich dem Jungen Tate. Gesichtet hat sie ihn auf einem ihrer Ausflüge. Zunächst kommunizieren die beiden hauptsächlich über Federn. Als sie sich langsam anfreunden, beginnt Tate, sie zu unterrichten. Kya lernt lesen, schreiben, schließlich Biologie. Die Liebe zur Natur eint die beiden und bringt sie dann auseinander. Während Kya in ihrer Hütte am Randes des Marschlandes wohnen möchte, sucht Tate sein Glück in der Universität – und verlässt sie. Eine wegweisende Erfahrung für Kya, die sie empfänglich werden lässt für das Werben von Chase Andrew. Im Gegensatz zu Tate werden seine Ziele nie ganz klar, für Biologie interessiert er sich jedenfalls nicht. Durch die nicht immer friedliche Beziehung fängt sie an, ihre Mutter zu verstehen. Die kommenden  Jahre werden geprägt sein von Tate, der zurückgekommen ist und Chase, dessen Stolz verletzt wurde. Schutz gibt ihr mal wieder die Natur.

Als die beiden Zeitebenen sich treffen, erlebt man einen Prozess mit, der von Vorurteilen und Hoffnungen geprägt ist. Nach mehreren Monaten in einer Gefängniszelle spricht der Richter sie frei, die Dorfgemeinschaft denkt über ihr Verhalten nach. Szenen wie das gemeinsame Auftreten von Tate und seinem Vater im Gerichtssaal, die Anwesenheit des „schwarzen“ Jumpins gegen die Rassentrennung prägen das Bild. Die Frage nach dem Mörder wird zweitrangig.

Inzwischen ist Kya schon alt geworden, nicht mehr das kleine Mädchen vom Anfang. Zumindest äußerlich. Nach dem Prozess zieht sie sich mit Tate in die Marsch zurück, malt und schreibt. Zufrieden trotz der einfachen Verhältnisse. Während ihrer folgenden Jahre klärt sie manches auf, man erfährt mehr über ihrer Familie und als sie stirbt sind fast alle Fragen außer einer geklärt.

Zwar hätte es die letzten Seiten nicht unbedingt gebraucht, trotzdem ist man als Lesender dankbar, etwas länger in ihrer Welt des Marschlandes zu bleiben. Eine Welt, die sich an den Rändern auflöst, Barkley Cove wächst. Unbehelligt davon fährt Kya weiter in ihrem Boot.

Auf märchenhafte Art und Weise zeigt dieses Buch die Verbindung von Mensch und Natur.

Diesen Ort empfehle ich zum Lesen: Einen ungestörten Ort, um die besondere Einsamkeit und Beziehung zwischen Natur und Mensch von Kya nachzuempfinden. Einen, der es ermöglicht, nach der letzten Seite weiter zu träumen.

Besonderer Tipp: Marschland findet man nicht nur in North Carolina, sondern auch in Deutschland, etwa im Jeverland  oder in Dithmarschen. Wem das zu weit ist, der kann sich auf einen Ausflug in den nächsten Park begeben und die Natur beobachten.

Über die Autorin: Wie ihre Protagonistin Kya liebt Delia Owens die Natur und entschied sich nach der High School trotz einiger Erfolge als Schriftstellerin für die Zologie. Zusammen mit ihrem Mann, ebenfalls einem Zoologen, zog sie 1974 nach Botswana – ausgestattet mit nicht viel mehr als einem Geländewagen und Campingsachen. Mitten in der Kalahariwüste lebten die beiden. Aus diesen Erfahrungen heraus verfasste sie ihren ersten Roman „Cry of the Calahari“. Ihren großen Durchbrung errang sie 2018 mit „Der Gesang der Flusskrebse“, in dem sie unter anderem ihre Sommerurlaube in North Carolina als Kind verarbeitet.

Romancover "Der Gesang der Flusskrebse"
Buchcover “Der Gesang der Flusskrebse” von Delia Owens Bild: Hanser Literaturverlage
  • Autor: Delia Owens, Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
  • Hanser Literaturverlage, 19. Auflage 2019
  • 464 Seiten
  • ISBN 978-3-446-26419-9

Beitragsbild: unsplash.com / Aditya Saxena

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