Deutsche Einheit oder Deutsche Geteiltheit? Die Wiedervereinigung der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland ist eine der wichtigsten Errungenschaften der jüngeren deutschen Geschichte und folgerichtig elementarer Bestandteil ebendieser. Kaum ein weiteres Ereignis der letzten drei Jahrzehnte ist in Anbetracht politischer und gesellschaftlicher Relevanz vergleichbar mit dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten. Trotzdem existiert selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Vielzahl an sozioökonomischen Unterschieden, die eine Deklarierung als „Einheit“ erschweren bzw. in Frage stellen. Doch wo genau liegen die Unterschiede zwischen den Bundesländern Ost- und Westdeutschlands?
Häufig wird die in Teilen begründete These aufgestellt, die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland seien zu einem Großteil durch eine wachsende Anzahl an Gemeinsamkeiten ersetzt, welche lediglich weniger mediale Präsenz erlangen und daher seltener wahrgenommen würden. Folgt man einer repräsentativen Umfrage des ZDF, werden Ursachen für beschriebenen Trugschluss ersichtlich: Rund 54 % der westdeutschen Befragten waren demnach der Meinung, zwischen Ost- und Westdeutschland überwögen die Unterschiede, wohingegen 49 % der ostdeutschen Befragten die Auffassung vertraten, dass weiterhin die Unterschiede im Vordergrund stünden. Darüber hinaus beantworteten fast die Hälfte (46%) der ostdeutschen Befragten die Frage, ob ihrer Ansicht nach „Ostdeutsche wie Bürger zweiter Klasse behandelt“ würden, mit ja, während die westdeutsche Bevölkerung dieser Frage nur zu 17 % zustimmte.
Dementsprechend besteht laut der Umfrage in Deutschland nicht nur eine wahrnehmbare Teilung auf Meinungsebene zwischen ost- und westdeutschen Bürgern, sondern auch eine Zwiespalt, der auf der Uneinigkeit zwischen den jeweiligen Bevölkerungsgruppen untereinander, in Bezug auf das Verhältnis von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, basiert. Diese Darstellung wird allerdings der sozioökonomischen sowie politischen Bedeutung der Diskrepanzen keineswegs gerecht, da diese einerseits weiterhin bestehen, andererseits Auswirkungen zur Folge haben, die erheblichen Einfluss auf das alltägliche Leben der deutschen Bevölkerung nehmen.
Hierzu zählen quantifizierbare Aspekte, wie beispielsweise einer Differenz bezüglich des Haushaltsvermögens zwischen ost- und westdeutschen Haushalten, die sich im Durchschnitt auf 23.000 Euro beläuft. (Durchschnitt ostdeutsche Haushalte: 40.000 Euro; Durchschnitt westdeutsche Haushalte: 63.000 Euro).
Dieser im Schnitt erhebliche finanzielle Defizit ist in erster Linie auf eine verhältnismäßig geringere Anzahl überdurchschnittlich wohlhabender Menschen in ostdeutschen Bundesländern zurückzuführen, hängt jedoch ferner mit der geringeren Konzentration von besonders wirtschaftsstarken Unternehmen zusammen, die wiederum in der Lage sind, höhere Löhne an ihre Arbeitnehmer auszuzahlen.
Des Weiteren werden obige Abweichungen auf politischer Ebene ersichtlich, was die Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2017 veranschaulichen. In den ostdeutschen Bundesländern erzielten CDU/CSU mit 27,6 % ein deutlich schlechteres Wahlergebnis als in den westdeutschen Bundesländern, wo sie mit 34,1 % der Stimmen abschnitt. Trotzdem war die Union sowohl in den ost-, als auch in den westdeutschen Bundesländern die stärkste Partei.
Darauf folgend war die AfD in den ostdeutschen Bundesländern zweitstärkste Partei mit 21,9 % der Stimmen, dicht gefolgt von Die Linke, die 17,8 % der Wählerstimmen erhielt.
Im Gegensatz dazu erlangte die SPD in den westdeutschen Bundesländern mit 21,9 % der Stimmen die Position der zweitstärksten Partei.
Demnach ist in Ost- und Westdeutschland das mittlere politische Lager dominant, im Anschluss folgen jedoch interessante Verschiedenheiten. Während in westdeutschen Bundesländern offenbar eine höhere Übereinstimmung herrscht, scheinen innerhalb der ostdeutschen Bundesländer extremere Polaritäten vorhanden zu sein. Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass sich weder innerhalb der ostdeutschen Bundesländer, noch zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern ein politischer Konsens bzw. eine einheitliche politische Einstellung vorherrschend ist, was jedoch für eine Demokratie nicht zwangsläufig negativ zu bewerten ist.
Aber auch schwer messbare Gesichtspunkte, wie Mentalitätsunterschiede oder Auffassungen hinsichtlich der heutigen politischen und gesellschaftlichen Gesamtsituation, die auf Vergleichen zur Zeit vor der Wiedervereinigung basieren, sind für die bestehende Disparität äußerst relevant.
Aus einer repräsentativen Studie des Berliner Instituts „Policy Matters“, welches im Auftrag der „ZEIT“ eine Befragung von ostdeutschen Bürgern durchführte, geht hervor, dass 56 % der Befragten die Bildung an den Schulen heutzutage schlechter einschätzen als zu Zeiten der DDR.
Darüber hinaus erachten knapp 70 % der Befragten die soziale Gerechtigkeit heutzutage schlechter als zur Regierungszeit der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, nur 15 % der Teilnehmer sehen dahingehend eine Verbesserung seit der Wiedervereinigung.
Doch worauf gründen sich diese Empfindungen, war doch explizit soziale Gerechtigkeit unter der Führung der SED und dem Handeln des Ministerium für Staatssicherheit schwer auffindbar?
Eine mögliche, tiefgreifende Erklärung bietet der politische Kern der Wiedervereinigung, der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands“, kurz „Einigungsvertrag“, wobei die Kurzform offenbar präziser ist, als zu vermuten wäre. Denn schon im ersten Absatz des ersten Artikels dieses Einigungsvertrags fällt die Formulierung des „Wirksamwerden[s] des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland“ auf, die ein Machtverhältnis zwischen den deutschen Staaten impliziert, welches zu Ungunsten der DDR ausfällt. Diese Einigung auf einen Beitritt der DDR zur BRD und das einhergehende Machverhältnis sowie der daraus resultierende psychologische Effekt sind womöglich noch heute von erheblicher und folgenreicher Relevanz für die Disparität zwischen Ost- und Westdeutschland.
Demzufolge basieren die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland auf einer Vielzahl an politischen Handlungen und gesellschaftlichen Reaktionen, die bis vor die Zeit der Wiedervereinigung zurückreichen und deren Folgen auch dreißig Jahre nach der Einigung auf den Beitritt der DDR politisch sowie gesellschaftlich spürbar und ernst zu nehmen sind.
Folglich ist der Jahrestag der Einigung hinsichtlich des Beitritts der DDR zur BRD die optimale Gelegenheit, weiterhin an dem Prozess zu arbeiten, der vor dreißig Jahren in Gang gesetzt wurde – die Herstellung der Einheit.
Beitragsbild: Demonstration vor dem Rathaus in Plauen am 30. Oktober 1989. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1106-405 / CC-BY-SA 3.0