Georgien vor der Wahl: Krieg, Kirche und Tannenzapfen.

Teil 1: Ein halbes Jahr bis zur Wahl – ein Ausblick aus der Perspektive eines jungen Georgiers.

Georgiens Hauptstadt Tbilissi aus der Vogelperspektive
Georgiens Hauptstadt Tbilissi. – Bildquelle: Wikimedia Commons, Armineaghayan, CC-BY SA Lizenz

Um Georgien und dessen Politik zu verstehen muss man einen Blick auf die (durchaus bewegte) Geschichte des Kaukasuslands werfen, vor allem auf die jüngere Vergangenheit. Kurzgefasst: Infolge der Unabhängigkeit von der Sowjetunion gab es in den Neunzigern Kriege zwischen Separatisten und Georgiern in den nördlichen Regionen Abchasien und Südossetien – seitdem sind diese Regionen nicht mehr unter der Kontrolle der Zentralregierung. Die dortigen Regierungen werden von Russland sowohl politisch als auch militärisch unterstützt. Auch die im Südwesten Georgiens gelegene Region Adjarien verwaltete sich unabhängig vom georgischen Staat selbst. 

2003 kam es zum friedlichen Sturz des Präsidenten Schewarnadse, der in den letzten Jahren der Sowjetunion das Amt des Außenministers innehatte. Dieser als „Rosenrevolution“ bekannte Umbruch markierte einen drastischen Einschnitt: Dem an die Macht gekommenen Präsidenten Michail Saakaschwili gelang es, Adjarien wieder unter die Kontrolle Georgiens zu bringen und die einst grassierende Korruption sowie die Alltagskriminalität drastisch zu reduzieren. Durch Entbürokratisierungen und Zerschlagung der Clanstruktur der Oligarchen wurde die Wirtschaft beflügelt. Zudem wandte er sich außenpolitisch dem Westen zu und forcierte einen NATO- und EU-Beitritt seines Heimatlandes. 2008 scheiterte jedoch der Versuch Saakaschwilis, die abtrünnigen Regionen militärisch zurückzuerobern. Infolge dessen erkannte Russland die beiden Regionen als unabhängige Staaten an und baute seinen Einfluss in den beiden Gebieten weiter aus.

In den Folgejahren wurde Saakaschwilis Politik zunehmend autoritär und korrupt, sodass sich eine immer stärker werdende Opposition formierte. Bei den Parlamentswahlen 2012 gelang es dem Oppositionsbündnis „Georgischer Traum“ (GD), Saakaschwilis Partei, die „Vereinte Nationalbewegung“ (UNM), abzulösen. Der GD schaffte dies mit der Unterstützung des georgischen Milliardärs Bidsina Iwanischwili, der dann auch Premierminister wurde, 2013 allerdings zurücktrat und seitdem als graue Eminenz seiner Partei fungiert. Ideologisch unterscheidet sich der GD kaum von der UNM: Beide Parteien sind wirtschaftsfreundlich, sozialkonservativ und priorisieren nach wie vor einen Beitritt Georgiens zur NATO und zur EU, auch wenn der GD dezidiert russlandfreundlicher als die UNM auftritt. Saakaschwili setzte sich nach dem Ende seiner Amtszeit 2013 in zunächst in die USA und später in die Ukraine ab, da gegen ihn Ermittlungen in seiner Heimat aufgenommen wurden. Inzwischen wurden er und viele seiner Weggefährten rechtskräftig zu Haftstrafen verurteilt – seine Anhänger sehen diese Gerichtsurteile als politisch motiviert an.

Politische Rivalen: Bidsina Iwanischwili und Michail Saakschwili
Politische Rivalen: Bidsina Iwanischwili (links) und Michail Saakschwili (rechts). – Bildquelle: rferl.org, Mzia Saganelidze

2012 fand also der erste „Machtwechsel an der Urne“ statt. Die Regierung des GD, einst ein Bündnis aus sieben Parteien, zerfiel zunehmend, was allen voran an der Person Iwanischwilis lag. Mehrere Parteien, darunter die georgischen Liberalen und Grünen, verließen den GD. 2016 gelang der Regierung trotz starker Verluste die Wiederwahl, da auch die UNM angesichts diverser Verurteilungen von Parteimitgliedern in der Wählergunst abstürzte. Die verschiedenen GD-Abspaltungen verfehlten allesamt den Parlamentseinzug. Einzig die russlandfreundliche und nationalkonservative Partei „Allianz der Georgischen Patrioten“ (SPA) übersprang die Fünf-Prozent-Hürde knapp. Seitdem regiert der GD aufgrund des georgischen Wahlrechts mit Dreiviertelmehrheit. Iwanischwili-kritische Politiker im GD verloren an Einfluss und traten zurück, während die Opposition sich wegen Querelen spaltete: Der einstige Weggefährte Saakschwilis und frühere Parlamentspräsident David Bakradze gründete die Partei „Europäisches Georgien“ (EG), die moderater als die UNM auftritt. 

Die Kluft zwischen Anhängern des GD und der UNM ist tief; das Land ist stark gespalten. 2019 kam es in Anbetracht einer mauen Wirtschaftslage und dem wachsenden Einfluss Iwanischwilis aus dem Hintergrund zu Massenprotesten gegen die GD-Regierung, in deren Folge das Wahlrecht geändert wurde. Im Oktober dieses Jahres soll das Land, in dem die orthodoxe Kirche nach wie vor einen hohen Stellenwert hat, an die Wahlurnen schreiten. 

Bei dieser Wahl ist erstmals die Generation der Georgier wahlberechtigt, die weder die Bürger- und Sezessionskriege der Neunziger noch die Rosenrevolution 2003 aktiv miterlebt hat und den Fünftagekrieg von 2008 nur aus der Kindheit kennt. Den Machtwechsel der Saakaschwili-Ära zu den Regierungen des GD hat diese Generation nur passiv mitbekommen. 

Jarji, der seine Meinung zur Wahl in Georgien mit „Der Jungreporter“ teilt
Jarji, der seine Meinung zur Wahl in Georgien mit „Der Jungreporter“ teilt – Bildquelle: privates Foto

Jarji Topuria gehört zu dieser Generation. Er ist 21 Jahre alt und lebt in Georgiens Hauptstadt Tbilissi. Dort studiert er Wirtschaft an der Staatlichen Universität. Für ihn ist die Wahl zwischen GD und UNM ein wenig wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. „Viele befürchten, dass, wenn die UNM wieder an die Macht kommt, es zu regelrechten Aufständen kommen könnte“, sagt er, „denn die UNM hat verurteilte Straftäter in ihren Reihen und sie wirbt um Stimmen, indem sie sagt ‚Ja, wir sind korrupt, aber wir können den Aufschwung bringen‘. Zurzeit stagniert die Wirtschaft, auch wenn es leichte Verbesserungen in der letzten Zeit gab, aber Kriminelle an die Regierung lassen?“ 

Für ihn sind die große soziale Ungleichheit und wieder aufgekeimte Oligarchenclans und deren Einfluss auf das Rechtssystem ein großes Problem: „Es gibt eine Runde Oligarchen, die zwar keine direkten Kriminellen sind, allerdings großen Einfluss auf die Justiz haben. Die Jurys in den Gerichten bestehen fast ausschließlich aus Vertrauten dieser Clans. Das Jury-System ist komplett veraltetet.“

Auch wenn der GD von den beiden Großparteien für ihn das kleinere Übel ist, so findet er lobende Worte für eine junge, libertäre Oppositionsparlament namens „Girchi“ (übersetzt: Tannenzapfen), die nicht im Parlament vertreten ist. Sie hat durch Aktionen für die Legalisierung von Cannabis und durch die Gründung einer eigenen Kirche viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Jarji sieht es so: „Girchi ist eine ultraliberale Partei, die vor allem junge Menschen anspricht und frischen Themen zur Debatte bringt, anstatt den politischen Gegner anzugreifen. Auch wenn ich mit vielen ihrer Positionen nicht übereinstimme, so gefällt mir, dass sie andere Ansichten in die Diskussion bringen. Die Partei besteht aus vielen, sehr gut gebildeten Leuten, die ich sehr respektiere. Ich fände es gut, wenn sie ihre Punkte auch im Parlament vertreten würden.“ 

Irma Inaschwili, die Vorsitzende der nationalkonservativen SPA. Kontrovers ist sie vor allem wegen ihrer moderaten Einstellung gegenüber Russland
Irma Inaschwili, die Vorsitzende der nationalkonservativen SPA. Kontrovers ist sie vor allem wegen ihrer moderaten Einstellung gegenüber Russland. – Bildquelle: Wikimedia Commons, Aleko123124, CC-BY SA Lizenz

Die SPA – die einzige Parlamentspartei, die von einer Frau angeführt wird – sieht Jarji kritischer. Er habe großen Respekt vor der Vorsitzenden Irma Inaschwili, findet allerdings deren Position gegenüber Russland nicht richtig: „Seit zwei, drei Jahrhundert haben wir problematische Beziehungen zu Russland, trotzdem strebt die SPA eine stärkere Nähe zu Russland an. Das ist nicht der richtige Weg. Russland besetzt 20 Prozent unseres Territoriums.“ Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da: Die De-facto-Staaten Abchasien und Südossetien betrachten fast alle Georgier als integralen Bestandteils ihres Staates. Das ist auch die Meinung der meisten Völkerrechtler. Viele Georgier umrahmen ihre Facebook-Profilbilder mit den Worten ‚I am Georgian and my country is occupied by Russia‘. 

Jarji befürwortet, wie laut Umfragen 80 Prozent der georgischen Bevölkerung, den Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union. „Das ist genau das, was Georgien braucht“, meint er, „Sicherlich ist es ein schwieriger Weg bis dahin und wir sind noch weit davon entfernt. Es wird nicht in fünf Jahren passieren, die Reise bis dahin ist lang, aber ich bin dafür, diese Strategie weiter zu verfolgen.“ 

Auf die Wahlen im Oktober blickt er zwar vor allem mit Interesse, aber auch Skepsis. Es würde im Wahlkampf nicht um die Inhalte gehen, sondern vor allem um persönliche Anfeindungen, was er sehr bedauere. Für ihn ist am wichtigsten, dass ein Weg gefunden wird, wie Georgiens Einheit wiederhergestellt wird: „Da gibt es keinen Masterplan, sondern verschiedene Ansätze.“ Für ihn als Wirtschaftsstudenten auch ist der Abbau von Regulierungen für die Privatwirtschaft wichtig, allerdings unter Einbezug des Aspekts der Nachhaltigkeit. „Die Regierung hat kürzlich für wenig Geld große Naturgebiete an ein Unternehmen verkauft, das dort jetzt Erze abbaut. Damit wird georgische Geschichte und Landschaft zerstört. Das ist nicht akzeptabel.“

Die Coronakrise beeinflusst auch den Wahlkampf in Georgien. Die UNM musste bereits geplante Wahlveranstaltungen wegen einer nationalen Ausgangssperre absagen und ist deutlich stärker auf eine aktive Mobilisierung ihrer Wählerschaft angewiesen als der GD. „Die UNM wird es deutlich schwerer haben, ihre Anhänger zu aktivieren. Der GD wird davon profitieren“, schätzt Jarji, „was ich gar nicht übel finde. Wenn er mit einer Verfassungsmehrheit ausgestattet ist, dann kann die kriminelle UNM in die Schranken gewiesen werden.“

Die georgische Bildungspolitik findet er gut; Chancen seiner Generation sieht er optimistisch: „Meine Generation hat eine deutlich bessere Ausbildung erhalten als die meiner Eltern. Es eröffnen sich so viele neue Chancen. Die Früchte dieser Erfolge werden erst in zehn bis fünfzehn Jahren zu sehen sein.“

Jarji wird als kleinstes Übel den GD wählen. Die angestrebte Verfassungsmehrheit dürfte seine präferierte Partei allerdings nicht erreichen, und auch die absolute Mehrheit wackelt. Mit der Wahlrechtsänderung werden die Parlamentssitze nun zum Großteil proportional verteilt, zudem wurde die Hürde zum Einzug ins Parlament von fünf auf ein Prozent gesenkt. Die letzten Umfragen sehen den GD bei 34–39 Prozent, die UNM bei 23–29 Prozent und EG bei 8–10 Prozent. APG und eine Gruppierung um einen exzentrischen Sozialisten kämen auf je 5–6 Prozent, ein Bündnis der 2016 am Einzug gescheiterten Liberalen auf 3–5 Prozent und Girchi auf 2–3 Prozent. 

Es bleibt also spannend. 

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