Vor zwei Jahren war Europawahl – Doch wen haben wir eigentlich damals ins Europaparlament gewählt, um unsere Interessen zu vertreten? Wer könnte schon auf Anhieb fünf Abgeordnete des EU-Parlaments aufzählen?
Trotz ihrer wichtigen Position sind vielen Menschen ihre Vertreter:innen auf EU-Ebene unbekannt. Um das zu ändern, haben wir sieben Europaabgeordnete zu aktuellen Themen der Europapolitik befragt.
Ich freue mich, dass wir heute Svenja Hahn hier haben dürfen. Sie ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments für die FDP und dort Mitglied der liberalen Fraktion Renew Europe. Wie geht’s dir?
Gut! Ich freue mich, heute mit dir zu sprechen und uns darüber auszutauschen, was gerade los ist im Europaparlament und was gerade passiert. Ich bin auch gerade ganz positiv gestimmt, weil es so aussieht, als gehe es langsam voran in der Situation, vor allem bald langsam zu einem normalen Arbeitsalltag zurückzukommen, weil ich war jetzt länger Abgeordnete im Corona-Ausnahmezustand, als im „normalen“ Parlamentsbetrieb.
Du bist im EU-Parlament eine der jüngeren Abgeordneten. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 50 Jahren – Wie sind da deine Erfahrungen?
Am Anfang war das häufig noch ungewohnt für das Gegenüber. Ich kann mich erinnern, an meinem ersten Tag kam ich hin und wollte meinen Abgeordnetenausweis abholen. Dann sagte mir die Mitarbeiterin dort: „Ja, schön, dass das Ihr Name ist, wie ist denn der Name Ihrer Abgeordneten?“ Sie dachte, ich sei die Mitarbeiterin, die für die Abgeordnete etwas abholen möchte. Ein paar Missverständnisse am Anfang gab es dann doch schon, aber insgesamt ist das Parlament viel jünger geworden. Gerade bei uns in der liberalen Fraktion haben wir viele junge, auch viele junge weibliche Abgeordnete und da sieht man schon, dass das einen Unterschied macht. Insgesamt pushen wir Themen voran, die gerade auch jüngeren Menschen wichtig sind. Die beiden großen Themen des Parlaments und der Kommission in dieser Legislaturperiode sind die Bekämpfung des Klimawandels und Digitalpolitik, gerade weil insbesondere junge Menschen diese Themen im Vorfeld der Europawahlen auf die Agenda gesetzt haben.
Mittlerweile merke ich diesbezüglich aber nichts mehr, gerade weil jeder in seinen Themen drin und für etwas zuständig ist und da ist das Alter relativ egal, sondern du weißt wirklich, wer für welches Thema eine Ansprechperson ist. Da spielt dann Alter nicht so eine Rolle, aber am Anfang waren einige immer noch verwundert.
Ihr hattet ja letzte Woche in Brüssel Plenarwoche. Was stand denn dort alles auf der Tagesordnung?
Immer unterschiedliche Themen. Wir arbeiten ja anders als der Bundestag, wir haben ungefähr 40 Sitzungswochen im Jahr, der Bundestag hat Ausschuss-, Plenums- und Fraktionssitzungen alle in einer Woche. Wir haben das in verschiedenen Wochen. Das heißt in der Ausschusswoche tagen die Ausschüsse; ich bin in den Ausschüssen für Binnenmarkt, Verbraucherschutz, künstliche Intelligenz und Außenhandel. Dann haben wir die Fraktionswochen, bei mir Renew Europe, die Dachorganisation der liberalen Parteien. Und dann haben wir eben die Plenarwochen. Normalerweise tagen die immer in Straßburg, wegen der Corona-Pandemie sind diese im Moment in Brüssel, was natürlich wesentlich praktischer ist. Da werden dann immer die Initiativpositionen oder die fertigen Berichte verabschiedet und debattiert.
Ich habe letzte Woche zum Beispiel zum Digital Europe Programm gesprochen, also einem Finanzierungs- und Investitionsprogramm, das die Digitalisierung finanziell vorantreiben soll.
Kannst Du uns mehr über dieses Programm verraten?
Das Programm soll das Ziel der Digitalisierung auch finanziell unterfüttern. Das heißt, es soll ganz gezielt Forschung finanziell unterstützen in verschiedenen Bereich, darunter eines meiner Kernthemen, künstliche Intelligenz. Es ist ein ganz wichtiger Baustein, Digitalisierung in der EU strategisch voranzutreiben.
Was ich ein bisschen schade fand, war, dass die Mitgliedsländer in den Verhandlungen das Budget für das Programm etwas gekürzt haben und es nicht so hoch war, wie vom Parlament gefordert und von der Kommission vorgesehen. Aber so ist das, am Ende werden immer Kompromisse gemacht. Es ist ein ganz wichtiges Programm zur Finanzierung der Digitalisierung, kann aber nur ein Teil sein. Es braucht nicht nur öffentliche, sondern auch immer private Investitionen. Jetzt stehen wir vor der Frage, welche Gesetze noch kommen. Da stehen einige große Gesetzesakte in Planung, um einen Rahen für Digitalisierung in Europa zu schaffen.
Wenn man als junger Mensch über das Thema ,Digitalisierung in der EU‘ nachdenkt, fällt einem als erstes die EU-Urheberrechtsform von 2019 ein. Damals gingen ja viele junge Menschen auf die Straße, vor allem um gegen den umstrittenen Artikel 13 (Anm.: Artikel der Reform, der eine Implementierung von Uploadfiltern als Konsequenz haben könnte, mittlerweile Artikel 17). Die Reform wurde ja damals vor deinem Eintreten in das EU-Parlament verabschiedet, aber seitdem hat man davon nicht mehr viel gehört. Wie ist dort der Stand der Umsetzung?
Ich habe schon Anfang 2018 angefangen, mit der europäischen liberalen Jugendorganisation, damals als Vorsitzende, auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Wie häufig bei europäischen Gesetzesentwürfen, schwappt das erst in die breite mediale Öffentlichkeit, wenn es oftmals schon zu spät ist, noch was daran zu ändern, nämlich wenn es kurz vor der Abstimmung im Parlament ist. Dabei passiert die eigentliche Arbeit in den 2–3 Jahren vorher.
Nichtdestotrotz war das eine unglaublich starke Bewegung. Ich habe das in zehn Jahren Europapolitik selten erlebt, dass ein Thema so unglaublich mobilisiert und die Menschen so berührt hat. Das hat am Ende leider nicht gereicht und es ist verabschiedet worden. Das heißt, auf EU-Ebene ist es erstmal fertig, es liegt jetzt auf der nationalen Ebene.
Damals hat die CDU, die die Reform ja maßgeblich im Europaparlament gepusht hat, gesagt, die verpflichtenden Uploadfilter kämen in Deutschland nicht. Jetzt spulen wir zwei Jahre vor und sehen: Diese werden wahrscheinlich kommen. Der Entwurf geht seitdem hin und her und muss angepasst werden an nationales Recht. Das macht dann die Bundesregierung. Der jetzige Entwurf sieht nicht sehr gut aus. Wahrscheinlich wird er in der nächsten Plenarwoche in die Ausschüsse im Bundestag gehen und dort verabschiedet werden. Im Moment sieht es so aus, dass verpflichtende Uploadfilter de facto zum Einsatz kommen werden, weil sonst die vorgesehenen Regeln anders nicht umgesetzt werden können. Es ist zwar kein expliziter Uploadfilter, aber letztendlich wird es wohl nicht anders gehen. Mal gucken, ob noch was passiert, aber es sieht wohl nicht so aus.
Für viele stellt sich die Frage: Was kann man jetzt dann noch bei diesem Thema machen? Was glaubst Du?
Nur weil ein Gesetz gekommen ist, muss es nicht für immer bleiben. Das führt dazu, dass Gesetze regelmäßig überprüft werden, ob sie einen Sinn erfüllen. Ich glaube, wir müssen weiter auf das „Fair Use“-Prinzip hinwirken, wie wir es aus den USA kennen, dass es eine sogenannte „Bagatellklausel“ für den privaten Nutzen gibt. Das kann zum Beispiel das Lied im Hintergrund für die Länge einer Instagram-Story sein, oder wo klar ist, dass das ein Meme ist.
Das „Fair Use“-Prinzip ist etwas, wofür wir in der Europäischen Union bei den Diskussionen, die wir haben, grundsätzlich arbeiten sollten. Jetzt kommt diese Diskussion auch nochmal auf. Wir haben drei große Gesetzesakte im Bereich Digitalisierung: der Digital Service Act, der Digital Market Act und die AI-Regulierung (Anm.: AI = artificial intelligence/künstliche Intelligenz). Der Digital Service Act soll festlegen, welche Aufgaben Plattformen haben, beispielsweise im Bereich Hasskriminalität, aber auch Upload von illegalen Dingen, wie die Plattformen damit umgehen müssen. Da kommt eben genau diese Diskussion auch wieder. Der Digital Market Act soll für einen fairen Wettbewerb bei Online-Plattformen und Anbietern sorgen, damit auch neue Unternehmen in den Digitalmarkt reinkommen können. Die AI-Verordnung soll einen Rahmen schaffen, in dem künstliche Intelligenz angewendet werden darf, also welche Anwendungen neuer Technologien angemessen sind. Die Verwendung der Gesichtsentsperrung für das Handy zum Beispiel ist vollkommen okay, aber die Gesichtserkennung zur biometrischen Überwachung im öffentlichen Raum wäre ein Anwendung, die nicht sein darf, weil sie unsere Bürgerrechte unterminiert.
Da wird also noch sehr viel kommen und passieren in den nächsten Jahren in der digitalen Gesetzgebung. Deswegen müssen wir aufmerksam bleiben und uns im Zweifel für Bürger- und Freiheitsrechte einsetzen, denn diese dürfen nicht begrenzt werden, sondern sind die Grundlage von Digitalpolitik.
Nochmal zum Thema Uploadfilter: Wenn man sich das Abstimmungsverhalten im EU-Parlament ansieht, dann wird man feststellen, dass jede Fraktion sehr durchmixt dort abgestimmt hat. Bei Abstimmungen im Bundestag hingegen wird oft entlang der Fraktionsgrenzen gestimmt. Wie kann man sich das im Europaparlament mit der Fraktionsdisziplin vorstellen?
So etwas wie Fraktionsdisziplin wie im Bundestag gibt es per se nicht im Europäischen Parlament. Das Arbeiten im EU-Parlament ist grundsätzlich anders. Im Bundestag bist Du entweder in der Opposition oder in der Regierung. Die Anträge der Opposition entsprechen oftmals dem Wahlprogramm, dort müssen in der Regel keine Kompromisse gemacht werden. Im EU-Parlament ist das anders. Wir müssen auf ganz vielen Ebenen Kompromisse machen. Wenn ein Thema ins Parlament kommt, wissen wir, dass daraus ein Gesetz wird. Das geht dann in die Ausschüsse und dort muss man dann schon mit den anderen Fraktionen Kompromisse finden.
Das verläuft über sogenannte Berichterstatter und Schatten-Berichterstatter, die dann über Fraktionsgrenzen hinweg Mehrheiten in den Ausschüssen finden. Diese müssen das dann aber auch in ihren Fraktionen abstimmen, dass die dann auch in ihren Fraktionen Mehrheiten dafür bekommen. Das heißt, dass wenn ein Thema reinkommt, man auch in der eigenen Fraktion für seine eigene Auslegung zum Thema werben muss. Das heißt, Du musst mit deiner eigenen Fraktion und über Fraktionsgrenzen hinweg Kompromisse machen. Es ist also nie 100 Prozent „deine Sache“, sondern immer ein dialogorientiertes Zusammenarbeiten.
Manchmal werden auch Themen von Nation zu Nation unterschiedlich gesehen, da sind dann teilweise Parteigrenzen egal, beispielsweise beim Thema Atomenergie. Das sehen eigentlich alle Franzosen positiv, unabhängig von ihrem Parteibuch. Aber wenn es dann thematisch tiefer geht, siehst du in auch in einem Land die unterschiedlichen Parteiauslegungen. Das macht die Arbeit im Europäischen Parlament immer sehr spannend und oftmals nicht vorhersehbar, aber führt auch dazu, dass man als Fraktion eine Linie hat, aber man bei einer Abstimmung dann als nationale Delegation anders abstimmt. Es ist also ein spannendes, sehr dialog- und kompromissorientiertes Arbeiten.
Was würdest Du der jungen Generation, die vielleicht auch wegen Abstimmungen wie der Urheberrechtsreform entmutigt ist, auf den Weg geben?
Geht auf die Straßen und geht in die Parteien! Gerade junges Engagement in den Themen Digitalpolitik und Klimaschutz hat diese Themen besonders auf die Agenda gesetzt, weil so eine Power dahintersteckt. Politik wird aber in Parlamenten und in den Parteien gemacht. Deswegen finde ich es super wichtig, jungen Menschen zu sagen: „Engagiert euch in einer Partei.“ Keine Partei wird zu 100 Prozent die eigenen Überzeugungen treffen, aber es gibt so viele Parteien und da wird sicherlich eine dabei sein, die euren Grundüberzeugungen entspricht. Engagiert euch, bringt euch, kandidiert vielleicht selber für Parlamente oder unterstützt Kandidaten, an die ihr glaubt. Verfolgt vor allem, was im Europäischen Parlament passiert, denn da wird gerade im Bereich Digitalpolitik in den nächsten Jahren ganz viel passieren. Verfolgt es, bleibt am Ball und bleibt laut!
Ganz herzlichen Dank, dass Du dir die Zeit genommen, mit uns Europa zu sprechen. Dir noch eine schöne Rest-Woche.
Danke, dir auch!
Beitragsbild: Collage / Foto von Svenja Hahn: Foto: CC BY-NC-ND © ALDE Party, Hintergrund: unsplash.com / Mika Baumeister